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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Tatsache ist, daß Kusks Argumente mich
zumindest für den Augenblick betörten. Ich war
verführt. Hypnotisiert. Lilit war erleuchtet, Kusk
allmächtig, die Zivilisation ein Gefängnis,
Individualität eine Falle, Vernunft eine Krankheit: Ich kaufte
ihm alles ab. Ich fühlte mich wie ein todkranker Patient, der
einen Arzt aufsucht, um geheilt zu werden, und statt dessen gesagt
bekommt, daß er zwar in der Tat zum Tode verurteilt sei,
daß dieser jedoch gewisse vorher noch nie gewürdigte
positive Seiten habe.
    »Wenn der Apfel Lilit wirklich den Frieden geschenkt
hat« – ich sprach langsam und vorsichtig und machte mir mit
dem Gedanken Mut –, »dann war mein Urteil vielleicht zu
hart. Trotzdem, würden die meisten Menschen ihren Zustand nicht
als schlimm bezeichnen?«
    »Schlimm, schlecht, böse – ach ja, die großen
Ein-Wort-Klischees. Erinnern Sie mich daran, daß ich ein
Seminar über das Böse abhalte. Sie sagen, Sie haben die Zitadelle der Schmerzen gegessen. Was halten Sie eigentlich
von Kaiser Gorath?«
    »Ich finde, Gorath ist… ja, böse.«
    »Na also! Sehen Sie? Wir laufen alle mit so engstirnigen
Modellen in unseren Köpfen herum, mit solch kleinkarierten
Vorstellungen, was einen Schurken ausmacht. Falls Sie sich noch
erinnern: Gorath will böse sein. Eine schwache
Charakterisierung – ich finde sie unglaubwürdig. Das wahre Böse wird von Männern und Frauen verursacht,
die sich nicht nur für moralisch halten, sondern auch auf andere
Menschen moralisch wirken. Sicher, der Teufel macht blutige Arbeit
– wir erwarten nichts anderes. Aber warum sind die Hände
der Heiligen ebenfalls rot? Ein Mensch bringt einen Traum mit dem
Titel Die Kröte der Nacht hervor, dessen conditio sine
qua non das Primat des Bewußtseins ist. Und was passiert?
Suzie Freed schluckt das Ding und bezieht daraus die Inspiration,
ihren Bruder zu töten. Sehen Sie, wie der menschliche Geist in Wirklichkeit funktioniert, mein lieber
Vorarbeiter?«
    In diesem Moment kam Prill ins Arbeitszimmer zurück und bezog
wieder seine Position neben dem Spatzengeier.
    Ich erhob mich von Freuds Couch und stolperte zu Kusks Thron. Mein
Zorn brach aus mir heraus. »Wollen Sie behaupten, es sei meine Schuld, daß Lilit von der Hamadryade gegessen hat?
Es war mein Fehler, daß ich den Baum gepflegt habe, ist es
das?«
    Kusk begleitete seine Antwort mit raschen, zarten Gesten, als ob
er seine Worte in Zeichensprache übersetzen wollte. »Ich
sage nur, daß Ihre Tochter jetzt glücklicher ist als je
zuvor. Ich sage, daß sie glücklich sein wird, solange sie
im Lotos-Institut bleibt. Was Ihre eigene Zukunft anbetrifft:
Erstens, finden Sie Trost darin, daß es in Goths Kirche einen
Platz für Lilit gibt; zweitens, machen Sie sich klar, daß
gegen ihre Bekehrung nichts auszurichten ist; drittens, lassen Sie
sie bei mir und kehren Sie zur Farm zurück.«
    Erstens, zweitens, drittens. Kusks Befehle ließen mich vor
Verwirrung zittern.
    »Sie brauchen sich nicht jetzt sofort festzulegen«, fuhr
er fort. »Meine Worte werden Ihnen nicht mehr aus dem Kopf
gehen. Sie werden dort bleiben und heilige Energie an sich binden,
und in ein paar Stunden wird Ihnen ihre Wahrheit
einleuchten.«
    Ich warf einen Blick auf das Chronamulett. Neun Uhr
einundfünfzig und acht Sekunden. Ich wollte keine einzige von
den zweihundertfünfunddreißig Sekunden haben, die Kusk mir
noch schuldete. Je eher ich diesen Morast der Konfusion
verließ, dieses Dickicht der Rätsel, desto besser.
    Auf meine Bitte hin gab Kusk Prill den Befehl, mich wieder
hinunter zu meiner Suite zu fliegen. Bevor ich das Arbeitszimmer
verließ, wünschte mir der Baron schöne
Träume.
     
    »Der Mann ist offensichtlich wahnsinnig«, sagte Urilla,
als sie meinen Bericht gehört hatte. »Tut mir leid, Quinny,
aber die Hamadryade muß dich angelogen haben. Kusk ist nicht
die Lösung.« Sie sprach mit leiser Stimme, um nicht von den
Transceivern abgehört zu werden, die unser Gastgeber in den
Wänden verborgen haben mochte. »Manchmal kann man sich
Hoffnungen machen, manchmal muß man sich aber auch mit
Tatsachen abfinden. Und die grundlegende Tatsache ist, daß wir
Lilit hier wegschaffen müssen.«
    Wir saßen in der Nabe auf dem Boden vor dem vielgestaltigen
Feuer. Jonnie lag quer über dem Lesesessel und blätterte
sein Thyestes- Skript durch. Lilit war in ihrem Schlafzimmer
und schlang Schoko-Gummibomben in sich hinein, während Rodnie
Quash vor sich hinplärrte. Ein Kopfhörer verband sie mit
dem

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