Der Kopflohn - Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932
eine zweite Tür ins nächste Zimmer. Über der Tür hing ein Bild von Hindenburg unter Glas. Auf einmal durchfuhr den Bauer der Gedanke, daß er in diesem Zimmer etwas beschwören mußte. Was, wußte er nicht, aber er fürchtete sich vor dem Schwur.
»Was wollen Sie denn?«
Schüchlin knöpfte sich wieder auf und legte seine Vorladung hin. Er beobachtete das Männchen, das sie durchlas. Er wurde gefragt und mußte antworten. Das Männchen füllte seine Antworten sorgsam in seinen Bogen ein. In diesem Männchen war nichts von Lüdekes Gier und nichts von Lüdekes Zähigkeit, und doch kam er in Schüchlin hinein, wo Lüdeke nie hineingekommen wäre. Er hatte Macht, den Bauer zu fragen und ihn antworten zu lassen, wessen Eltern Kind er war, wessen Eltern Kind seine Frau gewesen war, wieviel Kinder sie geboren hatte, ja er fragte sogar jenen verstorbenen Sohn heraus, den seine Frau vordem geboren hatte. All das zu fragen, war ihm die Macht gegeben. Aber nicht die Macht, es irgendwie für sich selbst zu verwerten, sonst wäre er wohl nieso dürr geblieben, so blaß und so fadenscheinig. Schüchlins Antworten bereiteten ihm nicht die geringste Genugtuung, doch schrieb er sie sorgfältig auf. Grade darum spürte der Bauer erst jetzt den richtigen Geschmack der Schande. Als man ihm das Papier zur Unterschrift vorlegte, und er zu der gedruckten Stelle kam: »An Eides Statt«, verstand er, daß er eingefangen war, aber er mußte schon bei dem bleiben, was er selbst gesagt hatte, und seinen Namen dazu geben.
»Warten Sie mal.« Der Bauer erschrak. Die ganze Zeit über hatte er vergessen, daß die Frau noch da war, eine Leiche. Er machte den Mund auf und schnaufte. Das Männchen war aufgestanden und ging ins hintere Zimmer.
Kurz danach war der Bauer vollkommen erleichtert. Man zeigte ihm nicht die Tote, nur ihre Photographie. Beim Anblick des gestempelten Bildes der Ertrunkenen packte ihn derselbe Abscheu, durch den er gemußt hatte, um die Frau zu seiner leiblichen Frau zu machen – seinem fleißigen Leben zulieb, seinem Besitz an Feld und Vieh. Er hatte nur den einen Wunsch, die Frau so schnell wie möglich anzuerkennen, damit man Erde über sie gebe, und Friede ihm und ihr. Er sagte rasch: »Das ist meine.«
Es schmerzte ihn nicht einmal, daß er eine Stempel- und Bestattungsgebühr bezahlen mußte. Als er den langen Gang zurückging, frisch und ruhig, fiel sein Blick auf ein rotes Plakat, das einem der Fenster gegenüber angeschlagen war. Fünfhundert Mark Belohnung. Die Größe der Zahl erstaunte ihn. Er trat dicht heran und nahm den Hut vom Kopf. Da war der eiserne Reif weg. Er las und begriff, daß dieses Geld zu verdienen war, wenn man einen Mann herausfand, der einen anderen erstochen hatte, blonde Haare hatte, blaugraue Augen, ein blaues Hemd, eine Windjacke.
Die Photographie des Gesuchten war dabei. Schüchlin betrachtete sie flüchtig. Er hatte sich immer abseits gehalten, die letzte Zeit vor und nach der Geburt war er überhauptnicht unter Menschen gekommen, er hatte ihnen nicht mehr ins Gesicht geblickt. Schüchlin fragte sich, ob es wirklich jemand gab, an den diese Summe ausgezahlt wurde. Ein solcher Mensch, wenn es ihn wirklich gab, kam zum Geld wie das Kind zur Muttermilch. Mehr als die Person des Mörders und des Ermordeten beschäftigte ihn die Person des Lohnempfängers. Er verglich kopfschüttelnd den Aufwand dieses letzteren, in den Besitz von Geld zu kommen, mit seinem jahrelangen furchtbaren Aufwand an Arbeit, Unglück und Versündigung. Er stieg mit gesenktem Kopf die Treppe hinunter, überquerte nicht den Platz, sondern blieb auf der Stadtmauerseite. Wie er aber dort beim Bier saß, da durchströmte ihn das Gefühl der freien Zeit, das Gefühl, die verabscheute Frau zu Hause nicht mehr vorzufinden, mit tiefem Behagen.
II
Dienstag frühmorgens kamen zwei Bauernburschen aus Botzenbach mit einer Koppel Hammel in die Stadt. Sie hatten keine Fahrgelegenheit für sich und ihre Tiere gefunden und waren in der Nacht aufgebrochen. Sie kamen nicht durch das Stadttor in die Anlagen; weil diese für Viehtransporte verboten waren, kamen sie von der Straße, die rechts hinter den Sandgruben abbog, über den flachen Erdwall, der seit hundert Jahren in eine Lücke der Stadtmauer eingeschüttet war. Dort gab es ein paar verzwickte Gassen aus neuen und alten Brocken, mit Schimmel und frischem Anstrich, mit Pfefferkuchenpflaster und Asphaltflicken. Meistens wohnten dort Arbeiter aus der Schuhwichsfabrik und
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