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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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zu, doch er zerfiel erneut in tausend kleine Glassplitter, die nun durch den Raum schwebten und sich anschließend einige Schritte von der Vampirin entfernt wieder materialisierten.
    »Ihr könnt mir kein Leid zufügen.« Avrax blickte sie spöttisch an. »Ich wollte Euch nur warnen«, versuchte er sie zu beschwichtigen.
    »Was liegt Euch an ihm?«
    »Seine Interessen überschneiden sich mit meinen. Der Ordo Occulto ist eine gefährliche Einrichtung, und ihr Führer gewinnt zu viel Macht in Heidelberg.«
    »Dann geht doch einfach fort.«
    »Wenn ich das könnte.« Das Grau seiner Augen verdunkelte sich. »Mahnt ihn, achtsam zu sein. Ihm droht Verrat.«
    »Wieso sollte ich Euch vertrauen?«
    »Das solltet Ihr nicht.« Avrax strich mit einem Finger über ihre Wange. Seine Haut war eiskalt. »Ich bin ein Spieler, der des Spiels schon vor Jahrhunderten leid war.«
    Carissima hielt den Atem an. Seine Augen schimmerten feucht, und seine Trauer überschwemmte sie. »Wie alt seid Ihr?«
    »Mindestens vierhundert Jahre. Ich weiß es nicht genau.«
    Er beugte sich vor und strich sanft mit seinen Lippen über ihren Nacken. Ein Schauer lief Carissima den Rücken hinunter und fast hätte sie ihn an sich gezogen, aber da hatte er sich von ihr zurückgezogen. Sie holte tief Luft, sammelte sich und deutete auf all den Luxus, der ihn umgab.
    »Ihr seid reich, jung und unsterblich. Warum genießt Ihr das Leben nicht? Es bietet so viele Freuden.«
    Avrax’ Finger streichelten ihre Wangenknochen, die Stirn und folgten dem Lauf ihres Kinns zum Hals hinunter.
    »Ich bin ein Gefangener meiner selbst. Weder spüre noch empfinde ich etwas außer dem kurzen Entzücken, das Schönheit mir bereitet.«
    In seiner Stimme schwang eine ungeheure Sehnsucht mit. Carissima zweifelte nicht an der Wahrheit seiner Worte. Was für ein Geschöpf war er?
    »Ich muss Euch nun verlassen. Besucht mich, wann immer Euch nach Gesellschaft ist. Eure Anmut bringt neuen Glanz nach Heidelberg.« Mit diesen Worten zersprang er in feinste Glassplitter, die sich zu Staub auflösten und verschwanden.
    Auf dem Weg zurück in die Stadt ging Carissima langsam. Sollte sie Icherios tatsächlich warnen? Der junge Mann war bereits ängstlich und misstrauisch genug, aber konnte sie es sich verzeihen, ihn ohne Vorwarnung in eine Gefahr rennen zu lassen?
    Sie grübelte noch immer, als sie ihre Zähne in den Hals eines betrunkenen Schlägers versenkte, der aus dem Mäuse­schwanz getorkelt war. Sie hätte das edle Aroma eines sauberen Jünglings bevorzugt, aber in der Stadt musste sie Vorsicht walten lassen.

30
    Die Serie setzt sich fort
    G
    13. Novembris, Heidelberg
    I cherios saß im Magistratum an seinem Schreibtisch, während Maleficium das Zimmer durchstöberte.
    »Komm her zu mir, Kleiner.«
    Die Ratte hielt in der Bewegung inne, blickte prüfend zu dem jungen Gelehrten hinüber und legte den Kopf schief. Nach einem leisen Quietschen entschloss sie sich zu gehorchen und zu ihm hinüberzutrippeln. Icherios hob sie hoch und kraulte ihren samtigen Pelz. Vor ihm auf dem Tisch lag der Grund für seine Sorgen, ein einfacher Zettel, der doch so viel Ärger versprach.
    Ich erwarte dich heute in der Karlsstraße 16.
    Raban von Helmstatt
    Ein Bote hatte den Brief in einem einfachen Umschlag gebracht. Seither grübelte er, ob er zu seinem ehemaligen Mentor gehen sollte oder nicht. Er wusste, dass Raban nicht zögern würde, ihn zu zwingen oder ungebeten im Magistratum aufzutauchen.
    Der junge Gelehrte legte den Brief beiseite und studierte erneut das Symbol, welches er an den beiden Leichenfundorten gefunden hatte. Zur Sicherheit hatte er es auf ein Stück Papier gezeichnet, um kein Detail zu vergessen. Eine Doppelspirale stand für Unendlichkeit, Fruchtbarkeit und Erneuerung. Was wollte der Mörder ihm damit sagen? Selbst in den Büchern, die er bei seiner Rückkehr aus Karlsruhe mitgebracht hatte, fand er keinen Hinweis.
    Unruhig trommelte er mit den Fingern auf das Holz. Zu viele Dinge gingen in Heidelberg vor, die er nicht verstand, und er konnte das Netz aus Dunkelheit, das sich immer enger um ihn schnürte, förmlich spüren. Icherios stand auf. Er musste ein Problem nach dem anderen lösen, anstatt sich im Magistratum zu verstecken.
    Schließlich schob er Maleficium unter seinen Hut, sattelte Mantikor und machte sich auf den Weg, um seinen ehemaligen Mentor zu treffen. Er fürchtete sich vor einer Auseinandersetzung mit Raban. Einerseits wusste er, was er dem Vampir alles

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