Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
Vom Netzwerk:
konnte sie ihn töten und entkommen. Sie musste ihn ablenken, ihn davon abhalten, ihre Konzentration erneut durch Schmerzen zu unterbrechen. Bei der nächsten Berührung mit der Nadel stöhnte sie laut auf. Er starrte sie überrascht an. »Wir waren Freunde«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
    Der Priester lachte. »Ein Diakon würde sich niemals mit einer Hexe anfreunden.«
    »Er war nicht wie die anderen. Er hatte ein Herz.« Sie konnte die Verachtung in ihrer Stimme nicht verbergen.
    »Und wie kam es zu Eurer Freundschaft?«
    Gismara unterdrückte ein Lächeln. Es klappte. Er hatte den Köder geschluckt. Sie spürte, wie ihr Körper auf die Atempause reagierte, wie ihre Kraft zurückkehrte. »Meine Mutter half seinem Vater einst bei der Bekämpfung einer Seuche auf seinen Ländereien.«
    Der Priester erstarrte, während sie ihre Geschichte erzählte. »So sagt mir, warum sollte ich ihn umbringen?«, schloss sie.
    Sie sah den Schrecken in seinem Gesicht, ohne ihn zu verstehen. Glaubte er ihr etwa? Sie nutzte die Ruhe, um die Augen zu schließen und nach der Macht zu greifen.
    Silas war zu erschüttert, um die Hexe weiter zu beobachten. Woher kannte sie die Geschichte? Er selbst war zu der Zeit der Seuche noch ein Kind und dem Tode nahe gewesen, bis ihn eine später vom Volk als Heilige verehrte Frau rettete. War sie tatsächlich deren Tochter? War sie eine Freundin seines Bruders? Silas’ Gedanken drehten sich im Kreis. Was sollte er tun? Glaubte er ihr, konnte er sie nicht töten, auch wenn sie eine Hexe war. Ließ er sie laufen, würde sie sich grausam rächen. Hexen waren nicht für ihre Fähigkeit zur Vergebung bekannt. Zudem war sie nicht dumm, sie würde sich schon bald fragen, warum ein Priester sie heimlich folterte, ohne die Riten der Inquisition anzuwenden. Er senkte den Kopf. In so eine hundsdämliche Situation hatte er sich noch nie zuvor manövriert.
    In seine Grübeleien vertieft entging Silas, wie sich Gismara veränderte. Ihr Haar begann in einem nicht vorhandenen Wind zu wehen, ihre Haut erstrahlte in gleißendem Weiß.
    Gismara spürte, wie die Schmerzen nachließen, als Sinthguts Macht durch ihren Körper floss. Sie richtete den Blick auf die Fesseln an ihren Armen, konzentrierte sich darauf und hörte, wie sie mit einem leisen Klacken brachen. Der Hexenjäger blickte verwirrt auf. Doch bevor er reagieren konnte, warf sie ihm ihre gesamte Wut entgegen, schleuderte ihn nach hinten, sodass er schmerzhaft gegen die unebene Wand des Stollens prallte. Voller Genugtuung sah sie die Schmerzen in seinem Gesicht und die Überraschung. Nach Angst suchte sie jedoch vergeblich. Die würde sie ihm lehren, dachte sie verbittert. Während sie ihn weiter an die Wand presste, öffnete sie die Fesseln an ihren Beinen und schleuderte sie von sich. Mit steifen Gliedern setzte sie sich auf, dankbar, die Schmerzen durch Sinthguts Nähe einen Moment nicht spüren zu müssen. Langsam ging sie auf ihn zu. Noch immer zeigte er keine Furcht. Sie kniete neben ihm nieder.
    »Ihr habt mich unterschätzt, kleiner Priester.«
    »Was bist du?«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
    »Eine Hexe, von meiner Göttin mit besonderen Kräften gesegnet.« Sie erwartete, dass er nun sein wahres Gesicht zeigen würde. Die Blasphemie, nicht nur einen Gott anzuerkennen, würde er, wie jeder Priester zuvor, nicht durchgehen lassen können. Nur Zacharas war da anders gewesen. Statt aber in Rage zu geraten, blickte er sie weiterhin nur starr an. »Dann weiß ich, worauf ich in Zukunft achten muss.«
    Ein Schauer rann ihr den Rücken hinunter. »Wie viele meiner Schwestern hast du getötet?«
    Sein harter Blick durchfuhr sie. »Ich habe vor Langem aufgehört zu zählen.«
    All dieser Hass – hörte das denn nie auf? Gismara spürte, wie eine tiefe Erschöpfung sie zu überwältigen drohte. Wofür sollte sie noch kämpfen, wenn alles doch nur wieder mit der Frage endete, wer wen zuerst umgebracht hatte? Sie glaubte nicht, dass sie mit einem weiteren Mord auf ihrem Gewissen leben konnte, aber sie war es ihren Schwestern schuldig, sie vor diesem Mann zu schützen.
    »Verratet mir eines, bevor ich Euch töte. Warum ist Euch Zacharas so wichtig?«
    Für die Dauer eines Wimpernschlags vermeinte sie, Trauer und Schmerz auf seinem Gesicht zu sehen.
    »Er war mein Bruder.«
    Gismara brauchte einige Sekunden, bis sie begriff, was er gesagt hatte, und erkannte, dass es die Wahrheit war. Dieselben Augen,

Weitere Kostenlose Bücher