Der Kraehenturm
Ihre Augen standen auffällig schräg. Als er sie öffnete, zuckte er zurück. Sie waren nicht milchig, wie sie bei einer Toten sein sollten, doch das war nicht das, was ihn erschreckte: Ihre Pupillen bildeten schmale Schlitze wie bei einer Katze. Icherios hatte Derartiges schon einmal gesehen. Mit zitternden Fingern schob er das Stroh beiseite. Sein Verdacht bestätigte sich. Anstatt Beine sah er dort einen kräftigen, meeresgrünen, geschuppten Fischschwanz. Vor ihm lag die Leiche einer Nixe. Wie war sie hierhergekommen? Er erinnerte sich an den verführerischen Gesang, den er auf dem Weg zur Mühlenhexe gehört hatte, und die blau leuchtenden Augen im Wasser. Waren es Nixen gewesen? Waren sie der Grund dafür, dass nur selten Leichen aus dem Neckar gezogen wurden?
Das Schreien einer Krähe holte ihn aus seinen Grübeleien. Jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Prüfend hob er ihren Arm. Obwohl er fast damit rechnete, dass sie ebenfalls keinen Schatten besaß, zitterten seine Hände, als sich die Ahnung in Gewissheit verwandelte. Schnell ließ er sie wieder los; ihr Arm fiel unter leisem Rascheln ins Stroh. Was sollte er jetzt tun? Er konnte sie hier nicht einfach so liegen lassen, aber die Wachen rufen konnte er auch nicht. Wie sollte er ihnen die Existenz einer Nixe erklären? Er musste Mantikor holen und sie zum Magistratum bringen.
Als Icherios aus dem Stall trat und zur Straße zurückging, blickte er erneut zum Dach empor. Zwei Krähen saßen nun dort und legten die Köpfe schief, als er an ihnen vorbeieilte. Bildete er es sich ein oder leuchteten ihre Augen violett?
Bevor er mit Mantikor zu der Leiche zurückkehrte, hüllte er dessen Hufe in Leinen, um die Geräusche zu dämpfen. Neugierigen Nachtwächtern würde er auf dem Rückweg erzählen, dass er so verhindern wollte, dass die Hufe auf dem Eis wegrutschten. Es gab wahrlich Seltsameres in Heidelbergs Straßen. Als er den Körper der Nixe nach draußen zog, musste er mit ihrem Gewicht kämpfen. Der Fischschwanz wog fast so viel wie eine junge Frau allein. Wie sollte er sie nur jemals auf Mantikors Rücken bekommen?
»Hast du eine Idee, Maleficium?«
Die Ratte saß vor ihm auf dem Eis. Sie war nicht glücklich über diesen kalten Platz, das konnte er an ihren vorwurfsvollen Augen sehen.
»Wenn du mir hilfst, kommst du schneller ins Warme«, scherzte Icherios, während er schon in Erwägung zog, eine Art Flaschenzug zu bauen. Doch plötzlich ging der Wallach mit den Vorderläufen in die Knie. Der junge Gelehrte traute seinen Augen nicht. Hatte Maleficium dem Pferd den Befehl gegeben? Icherios schüttelte den Kopf. Er war übermüdet, das konnte nicht sein. Er hatte sich in den letzten Monaten mit vielem abgefunden und eingesehen, dass die Wissenschaft noch nicht in der Lage war, alle Kreaturen und Phänomene auf der Welt zu erklären, aber das ging zu weit! Er beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken, sondern die Gelegenheit zu nutzen. Mühsam schob er die Leiche auf den Rücken. Es beschämte ihn, einen nackten Frauenkörper anzufassen. Bei toten Männern war es einfacher, deshalb lenkte er sich ab, indem er dabei eine erste Untersuchung vornahm. Er musste allerdings feststellen, dass sie keine äußerlichen Verletzungen aufwies. Nachdem sie quer über seinem Sattel hing, bedeckte er sie mit seinem Mantel und hoffte, dass niemand ihn anhalten würde. Als er auf die Straße hinausritt, blickte er zurück. Die beiden Krähen saßen noch immer auf dem Dach und verfolgten ihn mit funkelnden Augen.
Auf dem Weg zum Magistratum grübelte er darüber nach, was er mit der Nixe tun sollte. Er würde sie niemals unbemerkt in seine Räumlichkeiten bekommen. Dafür war sie zu schwer. Nach den Ereignissen der letzten Tage traute er den Bewohnern des Magistratum noch weniger als zuvor, auch wenn er Franz als einen Freund betrachtete.
Er beschloss, sie vorerst in einer leeren Box in den Stallungen des Magistratum unter einer Decke Stroh zu verbergen, bis ihm etwas Besseres einfiel. Nachdem er den Wallach versorgt hatte, kniete er sich neben die Nixe und untersuchte sie genauer, wobei ihn ein leichtes Bedauern beschlich, sie nicht obduzieren zu können. Sie glich in vielen Dingen einem Menschen, aber neben einer Lunge, deren Existenz er aufgrund der Nase und der ertastbaren Luftröhre vermutete, entdeckte er unter den Armen seitlich im Brustkorb feinste Kiemen, die es ihr erlaubten, unter Wasser zu atmen. Nachdem er sie von allen Seiten begutachtet
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