Der Kraehenturm
verließ und seinen Mantel holte. Er musste sich von dem Fluch befreien, aber konnte er es wagen, Rabans Hilfe in Anspruch zu nehmen? Wollte er dem alten Blutsauger ein weiteres Mal vertrauen?
Icherios seufzte, als er in die kalte Nachtluft hinaustrat. Es gab ein Muster hinter dem Ganzen, das er nicht erkannte. Plötzlich stockte ihm der Atem. Das musste es sein!
Er eilte in die Stallungen und galoppierte mit Mantikor zurück zum Magistratum. Dort holte er seine Stadtkarte hervor und zeichnete die auf gegenüberliegenden Seiten Heidelbergs liegenden Leichenfundorte ein. Anschließend verband er sie durch eine Linie und nutzte sie als Ausgangspunkte, um eine Doppelspirale zu zeichnen. Wenn er mit seinen Vermutungen richtig lag, würde er im Zentrum der Doppelspirale, im Schnittpunkt mit der Verbindungslinie eine weitere Leiche finden. Aufgeregt zog er sich an und holte Mantikor aus dem Stall. Er beabsichtigte, zumindest diesen Teil des Rätsels heute Nacht zu lösen.
Diesmal fand Icherios sich in einer gehobeneren Gegend wieder. Zu dieser Zeit befand sich niemand mehr auf den Straßen, und durch die Ritzen der geschlossenen Läden drang schwaches Licht. Er schlang die Arme eng um sich. Die Kälte schmerzte ihn im Gesicht, und Maleficiums warmer Körper war eine Wohltat an seiner Brust. Die Straßen, auf denen am Tage der Schnee im Sonnenlicht geschmolzen war, hatten sich in eine spiegelglatte Eisfläche verwandelt. Icherios blickte zum Himmel empor. Nach dem Regen der letzten Monate war es der reinste Hohn, dass ausgerechnet jetzt der Himmel kristallklar war ohne auch nur den Hauch einer Wolke. Jetzt, da die Menschen eine schützende Wolkendecke benötigt hätten, verweigerte sie ihnen die Natur. Wen der Hunger nicht schon dahingerafft hatte, wurde nun von der Kälte ausgelöscht wie eine Kerzenflamme ohne ausreichend Sauerstoff.
Der junge Gelehrte blickte sich um. Wo könnte man hier eine Leiche verbergen? Die Straßen waren hell beleuchtet, und bei Tag eilten Passanten und Kutschen vorbei. Sein Blick fiel auf eine große, umzäunte Villa, durch deren Fensterläden kein Licht schimmerte. Icherios stieg ab, band Mantikor an einen Laternenpfahl und näherte sich vorsichtig dem Haus. Die Schneedecke in der Auffahrt lag unberührt vor ihm. Er vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete, dann öffnete er behutsam das Tor und folgte dem verschneiten Weg, der zur Eingangstreppe führte. Je weiter er sich von der Straße entfernte, desto dunkler wurde es. Ein Krächzen erklang. Er blickte nach oben und sah auf dem Dach eine Krähe sitzen. Ihre Silhouette zeichnete sich klar gegen den Sternenhimmel ab. Sie legte den Kopf schief und verfolgte Icherios’ Schritte, als er vor dem überdachten Eingang abbog und um das Haus herumging. Als der junge Gelehrte das nächste Mal hinschaute, war sie verschwunden. Dennoch kribbelte seine Haut, und ein unheimliches Gefühl blieb zurück.
Er kam zu einem kleinen Stall, dessen Tür nicht verschlossen war. Er presste beide Hände gegen das eisige Holz, sodass sich die Tür unter lautem Quietschen öffnete. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ging er hinein. Er legte einen Stein vor die Tür, damit sie nicht zufallen konnte und zumindest ein wenig Licht in das Innere drang. Langsam schritt er an den geöffneten Boxen vorbei, lauschte seinen eigenen angespannten Atemzügen. In der letzten Box fand er sie.
Ein junges Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren lag nackt und blass in altem Stroh. Icherios kniete neben ihr nieder, doch als er die eisige Haut berührte, wusste er, dass er zu spät kam. Sie war tot. Sanft strich er ihr das gefrorene, schwarze, hüftlange Haar aus dem Gesicht. Irgendetwas war seltsam, aber bevor er sich ausgiebiger mit ihr befasste, beschloss er, das Symbol zu suchen. Es dauerte nicht lange, bis er es entdeckte. Diesmal sorgfältig aus Stroh und Heu geflochten. Er steckte es ein und ging zu der Leiche zurück. Ihr Unterleib wurde von altem Stroh bedeckt, doch ihre Brüste, viel zu voll für so ein junges Mädchen, trieben Icherios die Schamröte in die Wangen. Das gefrorene Haar erregte seine Aufmerksamkeit. Es musste nass oder bereits vereist gewesen sein, als man sie hierherbrachte, denn der Stall war trocken. In den letzten Tagen hatte es nicht geregnet. War sie früher gestorben, als er gedacht hatte? Der junge Gelehrte betrachtete ihr Gesicht genauer. Ihre Wangenknochen waren extrem hoch, während die Nase kurz und platt war.
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