Der Kraehenturm
sie weiter. Der Kerl sollte nicht glauben, dass er nach ihr wie nach einem zahmen Hündchen pfeifen konnte. Aber ihre Neugier war größer, sodass sie schließlich doch dem Pfad zur Grotte folgte. An deren Ende fand sie sich vor einem großen, steinernen Portal wieder, das von Statuen wilder Tiere bewacht wurde, über denen ein Löwe thronte.
Carissima schloss die Augen und lauschte auf verdächtige Geräusche. Außer dem nächtlichen Rufen von Eulen und dem Rauschen des Windes in den Nadelbäumen umgab sie aber völlige Stille. Sie pfiff leise, und die drei Worge trabten zu ihr. Sie würde nicht ohne sie gehen und lästige Zeugen notfalls beseitigen.
Icherios würde das nicht gutheißen, aber der hatte sowieso genug andere Dinge im Kopf. Carissima musste zugeben, dass der Gelehrte ihr fehlte. Sie hatte vorgegeben, aus Langeweile nach Heidelberg zu reisen, doch in Wirklichkeit war es aus Sehnsucht gewesen. Zähneknirschend hatte sie feststellen müssen, dass er sich nicht verändert hatte und noch immer nicht auf ihr Angebot eingehen wollte, sich von ihr in einen Vampir verwandeln zu lassen. Sie hatte gehofft, die Erlebnisse der Andreasnacht hätten seine Meinung geändert; inzwischen musste sie sich jedoch eingestehen, dass eine Beziehung zwischen einem Vampir und einem Menschen zum Scheitern verurteilt war. Sie würde niemals verstehen, warum er so an dem von Schwäche geprägten Dasein als Mensch festhielt, und er konnte nicht akzeptieren, dass seine Artgenossen ihre Nahrung waren.
Leise schritt sie in die Grotte hinein und fand sich in einem Raum wieder, in den das Mondlicht in hellen Strahlen durch geschickt platzierte Öffnungen fiel. Von dieser von Menschenhand gefertigten Höhle gelangte sie in den ersten Grottenraum, an dessen Wänden kunstvolle, steinerne Figuren von Tieren prangten und in dessen Zentrum sich ein Becken befand, in welches das Wasser einst kaskadenartig geflossen sein musste. Aus dem zweiten Grottenraum, der von gröberer Machart war, drang schwaches Licht. Mit den hechelnden Worgen an ihrer Seite ging Carissima langsam darauf zu. Ihre Finger strichen durch das grau melierte Fell der wolfsähnlichen Kreaturen, die ihr Bruder so gerne züchtete. Hielt sie seine Begeisterung sonst für kindisch, so war sie jetzt dankbar für ihre Begleiter.
Das Licht kam aus einem schmalen Treppengang, der sich am hinteren Ende der Grotte nach unten wand. Sie befahl Favia, der Leitwölfin, voranzugehen, bevor sie sich an den Abstieg wagte. Die Treppe führte etwa zehn Schritte in die Tiefe. Elegante Lampen aus rötlichem Gold spendeten Helligkeit und wirkten an dem groben Stein fast deplatziert. Schließlich kam Carissima in eine große Höhle, deren raue Wände von eingeschlossenen Mineralien glitzerten. Unzählige Laternen und Kerzen erhellten den Ort, den Avrax offensichtlich zum Leben nutzte. Ein prunkvolles Bett mit Samtvorhängen, ein massiver Tisch, Bücherregale und Stühle – alle von höchster Qualität – verwandelten die Grotte in einen kleinen Palast. Avrax saß entspannt in einem Sessel. Als er sie sah, schlug er das Buch zu, in dem er gelesen hatte – Damon, oder die wahre Freundschaft von Lessing.
»Wie schön, Euch zu sehen.« Er lächelte. »Ihr habt ein paar prächtige Hunde.«
»Ich bin nicht hier, um mit Euch über Worge zu sprechen.«
»Weshalb dann?« Er grinste anzüglich.
»Was seid Ihr?«
»Ich war einst ein Mensch.«
Carissima ballte die Hände. Ihr war nicht nach Spielchen zumute. »Und was seid Ihr heute?«
Er trat dichter an sie heran. Die Wölfe knurrten bedrohlich. Carissima bedeutete ihnen zu schweigen. Seine rauchgrauen Augen fesselten sie, und sie musste der Versuchung widerstehen, über sein schwarzes Haar zu streichen.
»Ich bin ein Verehrer von Schönheit.«
»Und der Fluch des Heidelberger Schlosses.«
»Fluch klingt so negativ, heimlicher Hausherr gefällt mir besser.«
»Dann habt Ihr mich nur hierhergebeten, um über meine Schönheit zu sprechen?«
»Und sie zu bewundern.«
Carissima stöhnte genervt auf und wandte sich ab.
»Euer Menschenfreund befindet sich in gefährlicher Gesellschaft.«
Die Vampirin drehte sich um. Sie bemühte sich, teilnahmslos zu klingen. »Welcher Menschenfreund?«
»Der Student, den ich noch immer an Euch riechen kann. Der junge Mann, der zu viele Fragen stellt.«
»Wenn Ihr ihm etwas antut.« Der Zorn ließ ihre Augen funkeln, ihre Krallen wuchsen, und die Fangzähne schoben sich hervor. Sie sprang auf ihn
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