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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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mehreren Versuchen löste sich tatsächlich ein Stück aus der Weltkugel, die an dieser Stelle viel dünner war, als Icherios erwartet hatte. Der junge Gelehrte blickte sich um. Niemand war zu sehen, nur das Rauschen des Flusses und Mantikors gelegentliches Schnauben durchbrachen die Stille. Feine Nebelschwaden stiegen vom Neckar auf und brachten den schlammigen, erdigen Geruch des Wassers mit sich.
    Icherios zog sich hoch und spähte in die Kugel hinein. Die obere Hälfte war hohl! Er kletterte weiter hinauf, sodass er zu Füßen des Nepomuk lag, und griff in den Hohlraum hinein. Seine Finger ertasteten einen von Schnüren zusammengehaltenen Stapel Papier. Rasch zog er ihn heraus, steckte seinen Fund in die Manteltasche, verschloss die Kugel und eilte zu Mantikor. So sehr es ihn auch drängte, er wagte nicht, seine Entdeckung hier anzuschauen. Zuerst musste er in die Sicherheit des Magistratum zurück.
    Mantikors Hufe verursachten knirschende Geräusche auf dem gefrorenen Schneematsch, auf den die Stadtwache Sand gestreut hatte. Aus den Kaminen der Häuser stieg Rauch in die kalte Nachtluft auf, der in einiger Höhe unter der Wucht des stetigen Windes zerstob. Icherios blickte sich suchend um. Wohin waren die Krähen verschwunden? Eine gespenstische Stille lag über der Stadt, nicht einmal das Heulen eines Hundes erklang. Schweiß rann dem jungen Gelehrten den Rücken hinunter. Er fühlte sich beobachtet. Der Mond war hinter die Häuser gesunken, sodass die Schatten wie gierige Klauen in die Länge wuchsen und das Licht langsam verschluckten. Er konnte sehen, wie sich etwas in der Dunkelheit bewegte. Icherios trieb Mantikor zu einem raschen Trab an. Er musste hier weg. Ängstlich blickte er über seine Schulter. Die Schatten ballten sich zusammen, verdichteten­ sich und kamen auf ihn zu. Das Pferd spürte die Angst des jungen Gelehrten und fiel in einen Galopp. Immer wieder rutschten die Hufe unter dem mächtigen Wallach weg, Ratten­ huschten quiekend in ihre Verstecke, als sie vorbeirasten. Dennoch kamen die Schatten immer näher, wurden schneller und schneller. Während Icherios sich an Mantikors Mähne festklammerte, die Zügel hatte er längst verloren, sah er über seine Schulter. Die Schatten berührten fast den wehenden Schweif des Pferdes, schnellten dann einer Welle aus Schwärze gleich in die Höhe und stürzten sich auf ihn. Als die wirbelnden Schatten über ihm zusammenschlugen, wurde er aus dem Sattel gerissen und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf. Mit seinem letzten bewussten Atemzug sog er die Finsternis in sich ein, lauschte Mantikors entsetztem Wiehern, bevor er in der Dunkelheit versank.
    Icherios erwachte durch die Berührung von Mantikors weichen Nüstern, die ihm über das Gesicht strichen, und weil Maleficium ihn sanft an der Nase knabberte. Stöhnend öffnete er die Augen. Er fühlte sich schwach und benommen, aber warum lebte er noch? Soweit er es beurteilen konnte, fehlte ihm nichts. Mühsam versuchte er sich aufzurichten, doch es gelang ihm nicht. Sein Mantel war auf dem Boden festgefroren, nachdem seine Körperwärme das Eis zuerst geschmolzen hatte. Er sammelte seine Kräfte und riss sich los. Mit jeder Sekunde, die er bei Bewusstsein war, spürte er die Kälte in seine Knochen kriechen. Er blickte auf seine ungeschützte Hand, die auf dem Eis gelegen hatte. An manchen Stellen färbte sie sich bereits schwarz, an anderen leuchtete sie in tiefem Rot. Er musste schnell an einen warmen Ort. Als er sich auf die Knie aufrichtete, fiel sein Blick auf einen Zettel, der neben ihm lag, als ob er von seiner Brust gefallen wäre. Mit steifen Fingern hob er ihn auf und entfaltete ihn.
    Neugierde tötet.
    Dem jungen Gelehrten schnürte es die Kehle zu. Das war ein deutlicher Hinweis. Würde der Schatten ihn das nächste Mal töten? Doch aus was sollte er sich raushalten? Erschrocken fuhr seine Hand zu Vallentins Unterlagen. Zu seiner Überraschung befanden sie sich noch immer an ihrem Platz. Falls die Warnung seinen Nachforschungen über den geheimnisvollen Tod seines Freundes galt, warum hatte man ihm die Papiere nicht weggenommen? Oder sollte er sich nicht weiter mit den schattenlosen Mordopfern beschäftigen? Zitternd rieb er sich die Arme. Zuerst musste er raus aus der Kälte. Nur quälend langsam konnte er sich mithilfe seiner Steigbügel in den Sattel ziehen. Sobald er oben saß, fiel Mantikor in einen gemächlichen Schritt. Der Mond war inzwischen untergegangen, und die

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