Der Kraehenturm
Wange.
»Schön, dich zu sehen.«
»Ich hatte es dir versprochen.« Carissima drückte sanft seinen Arm.
»Nimm Platz. Wie ist es dir ergangen? Genießt du die Ballsaison in Heidelberg?«
Sie verloren sich eine Weile in belanglosen Gesprächen, in denen sie Neuigkeiten über alte Bekannte und Politik austauschten, dann wurde Carissima ernst.
»Wir können ihn nicht ewig vor unseren Regeln schützen.«
Raban schnaubte. »Heutzutage interessiert sich niemand mehr für den alten Codex, zu viele Sippen haben sich davon bereits losgesagt.«
»Trotzdem gibt es noch zahlreiche Sangosten, die Jagd auf ihn machen werden, sobald sie von seiner Verwandlung in einen Strigoi erfahren. Ich kann Icherios nicht für immer abschirmen.« Das war eine der größten Ängste der Vampirin: dass die Hüter der alten Verhaltensregeln der Vampire, die die Existenz von Strigoi verbaten, da ihr unkontrolliertes Wüten zu viel Aufmerksamkeit auf sich zog, von Icherios erfuhren und dessen Tod beschlossen.
»Ist etwas vorgefallen?«
Carissima senkte den Blick. »Nein, aber er ist in Gefahr.«
»Lüge mich nicht an. Du bist die Tochter, die ich nie hatte. Vor mir kannst du kein Geheimnis bewahren.«
»Er hat mich mit einem anderen Mann gesehen.«
Raban schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was hast du nur getan?« Er stand auf und wanderte im Raum auf und ab.
»So kannst du nicht mit mir sprechen. Ich bin doch kein normaler Mensch, über dessen Leben du einfach verfügen kannst.« Nun wurde auch Carissima zornig.
»Dann verhalte dich nicht wie einer und riskiere alles für eine kleine Liebelei.«
Die Vampirin zuckte zusammen. Raban zog überrascht eine Augenbraue hoch. »Oder ist es mehr als das?« Er kniete sich vor sie hin und blickte ihr in die Augen. »Hat meine Kleine nun doch die Liebe gefunden?«
Carissima wandte sich ab. »Stell dir vor, Icherios stirbt und erwacht als Strigoi inmitten einer Stadt, bevor wir es verhindern können. Die Hüter würden uns daraufhin jagen und töten.«
»Ich werde dich nicht mit hineinziehen.«
»Dafür ist es zu spät.«
»Gib mir noch etwas Zeit. Er wird einen Weg finden, sich zu retten und mir den Tod zu schenken. Ich weiß es.«
Sie nahm einen Schluck von dem mit Blut versetzten Wein, den Rabans Diener gebracht hatte. »Hast du dich je gefragt, was mit uns anderen geschieht, wenn es einen Weg geben würde, einen Vampir in einen Menschen zu verwandeln.«
»Es gäbe einen Ausweg.«
Carissima grub ihre Finger in das weiche Polster ihres Stuhls. »Ich wurde aber so geboren, bin ich dann also eine lebendig gewordene Krankheit?«
Raban hob beschwichtigend eine Hand. »So habe ich es nicht gemeint.«
Sie seufzte, stand auf und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich weiß. Diese Diskussionen machen mich hungrig, ich gehe jagen.«
»Pass auf dich und den Jungen auf, Liebes.«
Carissima ließ die Kutsche alleine nach Hause fahren und genoss es, auf der Suche nach einem Opfer über die Dächer Heidelbergs zu eilen. Ihre Gedanken wurden von einer einzigen Frage beherrscht: Liebte sie Tinuvet Avrax?
37
Die Statue des Nepomuk
G
18. Novembris, Heidelberg
M üde und mit verquollenen Augen blinzelte Icherios gegen das trübe Tageslicht an. Er entschloss sich, trotz einer Spezialvorlesung von Professor Crabbé, noch einen weiteren Tag der Universität fernzubleiben. Wer wusste, ob Kossa es sich ansonsten nicht anders überlegte, wenn er nicht pünktlich auftauchte? So ging er bereits mit den ersten Sonnenstrahlen zur Heiliggeistkirche und wurde direkt von einem Messdiener zu dem Geistlichen geführt. Die Laune des Priesters schien sich über Nacht noch weiter verschlechtert zu haben, sodass er jetzt kein einziges Wort mehr mit dem jungen Gelehrten sprach, während er ihn eine schmale Treppe hinunter in die unteren Gewölbe der Kirche führte.
»Wenn Ihr mit jemandem über das sprecht, was Ihr nun sehen werdet, werde ich Euch in Gottes Namen richten.«
Icherios nickte stumm. Kossa zog an einem Kerzenhalter, und plötzlich bewegte sich die einfache Steinmauer, sodass ein schmaler Spalt entstand, hinter dem nur Dunkelheit zu sehen war.
Kossa nahm eine Lampe aus ihrer Halterung und ging in den geheimen Raum hinein. Zuerst war Icherios bei dem Anblick, der sich ihm bot, enttäuscht. Er hatte ein riesiges Gewölbe mit Hunderten von Regalen erwartet. Stattdessen fand er sich in einer winzigen Kammer wieder mit drei großen, verschlossenen Schränken, einem Tisch und einem Stuhl. Dann
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