Der Kraehenturm
oder später Rabans Angebot, ein Labor für ihn einzurichten, annehmen musste. Dennoch wollte er die Hoffnung noch nicht aufgeben, allein eine Lösung finden zu können. Vielleicht sollte er den Zusammenhang zwischen Mond und Magie noch etwas genauer untersuchen. Magische Wesen standen oft unter dem Einfluss des Mondlichts, der Vollmond verstärkte meist ihre Magie. Icherios schob seinen Widerwillen bei dem Gedanken an Magie beiseite. Er durfte diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen, wenn sie Rettung versprach. Nachdem er mehrere Bücher durchsucht hatte, kam er zu dem ernüchternden Ergebnis, dass er für sämtliche Versuche abwarten musste, bis der nächste Vollmond eintrat. Seufzend lehnte er sich zurück. Also musste er es wieder mit den wissenschaftlichen Methoden der Alchemie versuchen und eine Heilung aus den sieben Elementen Wasser, Feuer, Erde, Luft, Schwefel, Salz und Quecksilber herleiten. Nachdem er sich erneut etwas Blut abgenommen hatte und damit einen neuen, komplexen alchemistischen Aufbau in Gang gesetzt hatte, der sich über eine Breite von drei Schritten zog, legte er sich ins Bett.
Icherios erwachte im Schein der gelben Mondsichel. Hektisch rappelte er sich auf, er hatte nicht so lange schlafen wollen, und zog sich an, wobei er sich bemühte, keine lauten Geräusche zu verursachen. Im Magistratum herrschte Stille. Franz schlief vermutlich, Gismara war in ihrem eigenen Haus, sodass der Einzige, dessen Aufmerksamkeit der junge Gelehrte erregen konnte, Auberlin war. Trotz seiner Zweifel an Freybergs Geschichte legte er keinen Wert auf ein nächtliches Gespräch mit dem Leiter des Magistratum. Nachdem Icherios seinen Hut aufgesetzt hatte, huschte Maleficium vor die Tür und blickte ihn auffordernd an. Seufzend hob er ihn auf, steckte ihn in seine Manteltasche und setzte seine gelb getönte Brille auf. Sein Blick blieb an seinem Spiegelbild im Fenster hängen. Zu dürr mit viel zu langen Armen, aber immerhin schmeichelte ihm der dunkle Gehrock, aus dem die überlangen Ärmel seines Hemdes ragten. Auch wenn er offenbar der Einzige war, der dieser Meinung anhing, gefielen ihm seine Brille und sein Hut. Sie verliehen ihm einen geheimnisvollen, intellektuellen Ausdruck. Zumindest redete er sich das gerne ein. Es mutete ihn seltsam an, sich über sein Aussehen Gedanken zu machen, aber er fühlte sich wie vor einer Verabredung mit einer jungen Frau. Auch wenn die Dokumente, die er in dieser Nacht zu finden hoffte, vermutlich den Tod seines Freundes verursacht hatten, so waren sie doch eine Art Nachricht aus dem Jenseits und gaben ihm das Gefühl, noch einmal mit Vallentin sprechen zu können.
Inzwischen war er geübt im Hinausschleichen und im Satteln von Mantikor, sodass es nur wenige Minuten dauerte, bis er aus dem Hof ritt. Zuerst spürte Icherios eine ungewohnte Leichtigkeit, fast schon Fröhlichkeit, dann blickte er zum Heiligenberg hinüber und sah, wie Tausende Flügel darüber hinwegflatterten, und er meinte sogar das violette Schimmern der Krähenaugen sehen zu können, die ihre Kreise um den Gipfel zogen. Er spähte zu den Dächern hinauf, und tatsächlich saßen drei dieser seltsamen Vögel dort und beobachteten ihn. Icherios senkte den Blick und streichelte Mantikors warmen Hals, um sich selbst zu beruhigen. Das Schlagen von Flügeln erklang hinter ihm, ein leichter Wind strich durch sein Haar, dann setzten sich die Krähen vor ihm auf einen Hausgiebel und starrten ihn aus hungrigen Augen an. Sie folgten ihm bis zur Brücke, auf deren achtem Pfeiler die Statue des Nepomuk ruhte. Kein Mensch war zu sehen, nur die Vögel harrten auf dem Brückendach aus. In den frühen Abendstunden gingen an der Brücke Diebe und Huren ihren Geschäften nach, doch zu dieser späten Stunde verirrten sich weder Freier noch Passanten, die eines Raubes wert waren, an diesen Ort.
Icherios stieg von Mantikor ab, band ihn vor der Brücke an einen Laternenpfahl und schritt dann auf die steinerne Figur des Nepomuk zu, die auf einer von Engeln getragenen Weltkugel stand. Er ging um die Statue herum, strich mit seinen Fingern über das Podest. Wo hatte Vallentin es versteckt? Vorsichtig kletterte er auf den Sockel und fuhr mit den Händen über die Weltkugel. Nichts. Dann fiel sein Blick auf einen schmalen Zwischenraum, der zwischen der Kugel und den vom Mantel überschatteten Füßen lag. Zarte Linien bildeten ein Quadrat. Ihm gelang es, den Fingernagel seines Daumens in den filigranen Spalt zu schieben. Nach
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