Der Kraehenturm
Finsternis, die Besitz von Heidelberg ergreift.
Dunkelheit lag über der Stadt, und ein Hund heulte in der Ferne, als der junge Gelehrte sich an eine Hauswand drückte, um das Haus von Kroyan Nispeth zu beobachten. Ein eisiger Wind fegte ihm beinahe den Hut vom Kopf und trieb dicke Nebelschwaden vor sich her. Verborgen unter seinem Mantel trug er ein Stemmeisen mit sich, in der Hand hielt er eine noch nicht entzündete Laterne. Er hatte bei seinem letzten Besuch bei dem Puppenmacher eine Kellertreppe an einer Seite des Hauses gesehen und hoffte, dort einsteigen zu können. Die Haare auf seiner Haut stellten sich vor Angst auf, wenn er sich vorstellte, von Nispeth erwischt zu werden. Dennoch schlich er in dem Moment, als eine Wolke den Mond verdunkelte, zu dem Gebäude hinüber und stieg die schmale Treppe hinunter. Icherios legte ein Ohr an die aus groben Latten gezimmerte Tür, die von gefrorenem Moos überwuchert war. Stille. Vorsichtig drückte er gegen die Tür, und zu seinem Erstaunen schwang sie auf. Beißender Gestank schlug ihm entgegen, ließ ihn würgen. Er zündete seine Laterne an, ging einen Schritt hinein und schloss die Kellertür hinter sich. Langsam schwenkte er das Licht von einer Seite zur anderen. Er befand sich in einer Abstellkammer, in der Tische, Nadeln unterschiedlicher Größe, rostige Messer und Fleischerhaken lagerten. Der junge Gelehrte lauschte an der Tür, die in den nächsten Raum führte, dann öffnete er sie einen Spaltweit und spähte hinein, die Laterne hinter sich haltend. Der Lichtkranz spendete ein schummriges Licht, das Konturen von Tischen und grotesken Gestalten enthüllte. Icherios zog sich zurück. Sein Herz pochte so laut, dass es jedem Bewohner des Hauses seine Anwesenheit verraten musste. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und trat in das Kellergewölbe. Nach einem Schwenken der Laterne bereute er seine Entscheidung. Würgend erbrach er sich neben der Tür. Zitternd lehnte er den Kopf gegen die feuchte Wand, wischte sich den Mund ab und drehte sich dann erneut um. Er befand sich in einem Kabinett des Grauens. Von der Decke hingen an rostigen Fleischerhaken die verwesenden, zum Teil gehäuteten Körperteile von Menschen. Der skalpierte Schädel einer Frau starrte ihn aus toten Augen und mit einem zu einem Schrei geöffneten Mund an. In einer Ecke lag ein Haufen Knochen, teilweise mit Fleisch bedeckt, die Icherios als Beine und Arme von Menschen identifizierte, um die ein Schwarm dicker, schillernder Fliegen schwirrte.
Mit einer Mischung aus Grauen und Faszination ging der junge Gelehrte zu einem großen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand. Jeder Schritt auf dem schleimigen Boden, der ihm das Gefühl gab, auf einem Teppich aus Schnecken zu laufen, kostete ihn Überwindung. Auf dem Tisch lag eine menschengroße Puppe, die kurz vor der Vollendung stand, doch statt Stoffe und Keramik hatte Nispeth Knochen und Menschenhaut verwendet, die er mit feinen Stichen aneinandergenäht hatte. Icherios’ Blick wanderte die Regale entlang. In ihnen saßen reglos die kleinen Puppen, die ihn nachts besucht hatten, dann stockte ihm der Atem. An der Wand lehnte das Puppenmonster, das Vallentin getötet hatte. Noch immer flößten ihm die schwarzen Augen Angst ein. Er rechnete jede Sekunde damit, dass sie sich erneut bewegten. War das Nispeths Ziel? Sich eine menschliche Puppe zu erschaffen, die seinen Befehlen gehorchte? Icherios ging in den nächsten Raum hinein, der sich einst von einer Tür hatte verschließen lassen, an die nur noch ein Paar rostige Angeln erinnerten. Schweiß rann ihm in die Augen. Den Gestank nahm er schon gar nicht mehr wahr, weil die Furcht ihm die Kehle zuschnürte. Er fühlt sich wie in einem lebendig gewordenen Albtraum. Auch in diesem Gewölbe bot sich ihm der gleiche grausame Anblick. Überall Tische mit halb gehäuteten Menschenteilen, ein Haken, an dem Kopfhäute hingen und Schwärme von Fliegen. Plötzlich stolperte er über etwas. Er blickte hinunter und zuckte zurück. Unter einem Tisch lag die blutüberströmte Leiche von Kroyan Nispeth. Der Puppenmacher war furchtbar zugerichtet. Krallen hatten sein Gesicht und den Oberkörper zerfetzt. Icherios war sich sicher, dass er tot war, trotzdem kniete er nieder und fühlte den Puls an dem blutverkrusteten Hals. Hier würde er keine Informationen mehr finden. Anschließend untersuchte er die Wunden, die ihm erschreckend bekannt vorkamen. Wo hatte er Derartiges schon mal gesehen? War das das Werk
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