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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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Morgenröte drängte gegen die von Osten aufziehenden schwarzen Wolkenberge.
    Icherios versorgte sein Pferd nur notdürftig, beschränkte sich darauf, es in den Stall zu führen, eine Decke überzuwerfen und etwas Heu zu geben, bevor er sich in die Wärme des Magistratum flüchtete. Er fühlte sich zwar schwach, aber dennoch brannte die Neugierde in ihm. Er wollte wissen, welches Geheimnis das Bündel Papiere barg, auch wenn die Drohung von dem Zettel ihm auf den Magen drückte. Warum hatte das Schattenwesen ihn nicht getötet? Und wer hatte den Zettel geschrieben?
    Nachdem er die Türen hinter sich abgeschlossen hatte, nahm er eine Laterne von der Wand, zündete sie an und ging die Treppen hinauf. Die Wärme erweckte seine Lebensgeister, aber zugleich brachte sie die Furcht zurück. Beobachteten die Schatten ihn? Sein Blick fiel auf seinen eigenen Schatten. Beinahe hätte er seine Lampe fallen gelassen, so stark fingen seine Hände zu zittern an. Das konnte nicht sein! Iche­rios rannte in sein Zimmer, zündete alle Lichter an und vergewisserte sich, dass er sich das nicht nur eingebildet hatte. Wie konnte das sein? Was war das? Sein Fuß warf keinen Schatten! Waren die Opfer etwa so gestorben? Verschlang etwas ihren Schatten? Mieden sie deshalb das Tageslicht, damit niemandem auffiel, was vor sich ging? Angst fraß sich in die Seele des jungen Gelehrten. Er würde sterben, wenn er das nicht aufhielt. Galle stieg aus seinem Magen empor und quoll in seinen Gaumen. Nun verstand er die Drohung auf dem Zettel. Waren die schattenlosen Toten ebenfalls gewarnt worden und hatten sich geweigert zu gehorchen?
    Icherios spülte sich den Mund aus und kauerte sich mit Maleficium in seinen Sessel. Was sollte er nun tun? Konnte er sich auf seine Schlussfolgerungen verlassen, dass es dem Schattenmonster nicht um Vallentin ging, obwohl er ausgerechnet in dem Moment angegriffen wurde, als er gerade eine Spur entdeckt hatte? Er rief sich das fröhliche Lachen seines Freundes in Erinnerung. Durfte er den Mord an ihm ungesühnt lassen? Er stand auf, zog sich aus, schleppte sich in sein Schlafzimmer, fiel in sein Bett und wickelte sich mit angezogenen Knien in seine Decke. Er war zu müde, um zu denken, aber er wagte nicht, das Licht zu löschen. Wahrscheinlich würde er niemals wieder dazu fähig sein, in der Dunkelheit zu schlafen. Das Verlangen nach Laudanum quälte ihn, doch er gab der Sucht nicht nach. Er durfte jetzt nicht die Kontrolle über seinen Verstand verlieren. Er war das Einzige, was ihn jetzt noch zu retten vermochte.

38
    Feuer in der Nacht
    G
    19. Novembris, Heidelberg
    D ie wenigen Stunden Schlaf, die Icherios bekam, wurden von Träumen über Blut und Schatten beherrscht. Die Sonne war gerade über die Dächer Heidelbergs geklettert, als er aufstand und sich in sein Nachtgewand gehüllt vor den Kamin setzte, in dem er vorher das Feuer angeschürt hatte. Während Maleficium an einem langen Streifen Trockenfleisch knabberte, untersuchte der junge Gelehrte die Papiere, die er in der Statue gefunden hatte. Er fand eine Karte, die das Heilige Römische Reich darstellte. Jemand hatte ein Christusmonogramm mit blutroter Tinte in sie hineingezeichnet, ein Bekenntnissymbol der frühen Kirche, das einem mit einem X gekreuzten P glich. Icherios legte die Karte auf seinen Tisch und studierte sie genauer. Feuchtigkeit musste in das Versteck eingedrungen sein, Schimmel färbte die Ränder schwarz und hinterließ dunkle Flecken auf dem Pergament, dennoch entdeckte der junge Gelehrte, dass einige Städte gekennzeichnet worden waren: Münster, Fulda, Augsburg und Tübingen. Sie alle lagen auf dem Christus­monogramm. Grübelnd legte er die Karte beiseite und wandte sich den anderen Unterlagen zu. Es waren Zeitungsausschnitte. Icherios blätterte sie flüchtig durch. Die Feuchtigkeit hatte die Tinte an manchen Stellen bis zur Unleserlichkeit verwischt. Er runzelte die Stirn, denn sie stammten aus den Städten, die auf der Karte markiert worden waren, und berichteten von Mordfällen. Er nahm ein Stück Papier, Feder und Tinte und setzte sich an den Tisch. Dann listete er die Morde chronologisch auf. Verblüfft starrte er auf das Ergebnis: Es gab einen zeitlichen Zusammenhang! In jeder Stadt hatte es innerhalb weniger Wochen eine Reihe ungelöster Mordfälle gegeben, die ebenso plötzlich, wie sie begonnen hatten, auch wieder aufhörten. Monate später wiederholte sich das Geschehen in einer anderen Stadt.
    Was wollte sein Freund ihm

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