Der Kraehenturm
jedoch öffnete Kossa die Schranktüren und gab dem jungen Gelehrten Gelegenheit, die Bücher genauer zu betrachten. Icherios’ Wangen röteten sich nun vor Freude. Da standen sie ordentlich aufgereiht, zum Teil in schützende Tücher gehüllt: alte Schriften von Hippokrates, Abhandlungen über Magie und Riten und zahlreiche Werke, um die sich nur noch Mythen rankten!
»Ich lasse Euch jetzt allein. Schließt die Tür hinter Euch, wenn Ihr geht, und kehrt nie wieder.«
Icherios bemerkte kaum, wie der Priester den Raum verließ. Trotz der geringen Größe beherbergte die Bibliotheca Palatina, oder was davon noch übrig war, mehrere hundert Bücher. Er fuhr vorsichtig mit dem Finger die Buchrücken entlang. Dann nahm er ein Buch über die geheimen Künste heraus und blätterte es durch, aber außer einigen seltsamen Ritualen fand er keine hilfreichen Informationen. Schließlich entdeckte er die Rituale der Hexereye in einem schmalen Regal unter einem verhangenen Fenster. Es handelte sich um ein dünnes Buch in einem verschlissenen Ledereinband. Als er es aufschlug, sah er eine endlose Buchstabenreihe, die sämtliche Seiten bedeckte und nur unterbrochen von Überschriften war. Solange er es auch studierte, er konnte keinen Sinn darin erkennen. Dennoch setzte er sich an den niedrigen Tisch und kopierte die Abhandlungen über die Schatten. Als er das Hexenblut roch, das durch Beimischung von Alkohol haltbar gemacht worden war, und sah, wie es sich rostrot in das Papier einfraß, wurde ihm übel. Dennoch bemühte er sich um äußerste Genauigkeit bei der Arbeit und vergaß so schon bald seine Abneigung gegen die Tinte und ging ganz in seiner Arbeit auf. Als er fertig war, betrachtete er zufrieden sein Werk, bevor er aufstand und seine Sachen zusammenpackte. Die Rituale der Hexereye bedeckte er mit einer dünnen Staubschicht, bevor er sie in das Regal zurückstellte, damit Kossa nicht so einfach herausfinden konnte, welches Buch er gelesen hatte.
Behutsam schloss er die Tür hinter sich, nachdem er noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf die Bücher geworfen hatte. Es war eine Schande, dass das Wissen hier so unbeachtet verborgen lag.
Die Sonne stand tatsächlich bereits hoch am Himmel, als er auf die Straße trat. Verdeckt war sie nur durch eine milchige Wolkendecke, die unablässig feinen Schneeregen zur Erde sandte. Das mildere Wetter hatte zahlreiche Kinder auf die Straßen gelockt. Ihre Eltern waren bestimmt froh darum, dass sie ausgelassen herumtollten und ihre überschüssige Energie loswurden, bevor sie sich wieder der winterlichen Heimarbeit zuwenden mussten. In einer nach faulem Kohl stinkenden Gasse saßen zwei kleine Mädchen auf einem Stapel Feuerholz und spielten mit zerlumpten Puppen aus Leinen und Stroh. Beim Anblick des jungen Gelehrten kicherten sie und zeigten verstohlen auf seinen hohen Kastorhut, während sie sich per Zeichensprache austauschten. Icherios blieb wie erstarrt stehen. Der Spott der Kinder prallte zwar unbemerkt an ihm ab, ihn interessierte aber etwas anderes. Die Mädchen unterhielten sich in einer erfundenen Geheimsprache genau wie er und Vallentin früher, nur dass ihre sich auf geschriebene Nachrichten bezogen hatte. So schnell er konnte, rannte er nach Hause, holte Maleficium aus seinem Käfig, um die beruhigende Wärme des Nagers auf seiner Schulter zu spüren, während er sich an die Arbeit machte. Er nahm ein stabiles Pergament, zeichnete eine Linie darauf und schnitt dann sieben Löcher hinein. Es fiel ihm schwer, sich an ihre genaue Position zu erinnern. Immer wieder hielt er inne, überlegte und fuhr sich verzweifelt mit den Fingern durch die Haare, bis er endlich fertig war. Anschließend legte er die Schablone auf die Randnotizen in Vallentins Tagebuch und notierte die in den sieben Öffnungen sichtbaren Buchstaben. Endlich wusste er, was es mit diesen seltsamen Bemerkungen auf sich hatte! An einigen Stellen hatte die Feuchtigkeit zu großen Schaden angerichtet, sodass er nicht alles entziffern konnte, doch zum Schluss hielt er die Nachricht in Händen.
In der Statue des Nepomuk … Unterlagen für dich … vorsichtig … immer dein Freund.
Er erinnerte sich, bei seiner Einreise nach Heidelberg an dieser Figur vorbeigekommen zu sein. Es drängte ihn, sofort dorthin zu gehen, doch er musste sich bis zur Nacht gedulden. Unruhig wanderte er in seiner Wohnung auf und ab, bevor er sich dazu zwang, die Suche nach einem Heilmittel fortzusetzen. Er wusste, dass er früher
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