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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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damit sagen? Es konnte doch einfach ein Zufall sein. Aber Vallentin war wahrscheinlich deshalb ermordet worden, also musste er etwas Wichtiges entdeckt haben.
    Icherios beschloss, in das Archiv des Magistratum zu gehen, um die vollständigen Artikel zu lesen. Es war zu mühsam, die verwischte Tinte zu entziffern. Eilig zog er sich an und öffnete leise die Tür. Als er an der Küche vorbeikam, hörte er das Klappern von Töpfen und Pfannen; Franz war beschäftigt. In der Bibliothek stand der junge Gelehrte einen Moment ratlos vor den unzähligen Kisten, die das Zeitungsarchiv bargen, zudem drang nur wenig Tageslicht in den Raum. Doch er traute sich nicht, eine Kerze zu entzünden. Es dauerte eine knappe Stunde, bis er das Ordnungssystem begriffen hatte, dann wurde er allerdings schnell fündig und blätterte den Jahrgang 1769 von Fulda durch. Frustriert wandte er sich der nächsten Kiste zu. Die gesuchten Zeitungen fehlten. Sein Ärger wuchs, als er auch von den anderen Städten die entsprechenden Exemplare nicht fand. Jemand musste sie gestohlen haben! Oder war Vallentin so leichtsinnig gewesen, die Zeitungen zu stehlen und für ihn zu verstecken? Icherios schüttelte den Kopf. Er wäre niemals so unvorsichtig gewesen, zumal er durch seine Leidenschaft für alte Landkarten Beziehungen zu Historikern pflegte, die ihm jederzeit die Exemplare besorgt hätten.
    Die Beine des jungen Gelehrten gaben nach. Er hatte nun Gewissheit – jemand aus dem Magistratum war an dem Mord an seinem Freund beteiligt. Warum sollten sonst ausgerechnet diese Zeitungen fehlen? Geschwächt von den Ereignissen der letzten Nacht und geschockt von seiner neuen Erkenntnis stolperte er in sein Zimmer zurück und verbarg Karte und Zeitungsartikel in den gesammelten Werken Shakespeares und Lessings. Anschließend ging er zum Frühstück hinunter.
    »Verschlafen?«, grinste ihn Franz an. »Ich habe dir ein paar hart gekochte Eier und Speck aufbewahrt.«
    Icherios hastete zu einem Stuhl und setzte sich so, dass es nicht auffiel, dass ein Stück seines Schattens fehlte. Täuschte er sich, oder wirkte die Fröhlichkeit der Werratte aufgesetzt? Er würgte das Mahl hinunter um keine Aufmerksamkeit zu erregen, und eilte danach zur Universität. Wenn er noch einen Tag verpasste, bestand die Gefahr, dass man ihn exmatrikulierte. Er wollte sich nicht ausmalen, was Freyberg und Auberlin ihm dann antun würden.
    Zwar war es leichtsinnig, mit einem unvollständigen Schatten die Vorlesungen zu besuchen, doch in dem Getümmel der Menschen hoffte er, dass es nicht weiter auffallen würde. Etwas so Selbstverständliches wie einen Schatten nahm ohnehin kaum jemand wahr. Dennoch fühlte er sich unbehaglich, als er sich in den Hörsaal setzte. Marthes­ war nun, da er von Icherios’ Nachforschungen wusste, deutlich nachsichtiger und akzeptierte die Entschuldigung des jungen Gelehrten für sein Fehlen mit einem breiten Grinsen.
    Pünktlich mit dem Glockenschlag stürmte Frissling herein und begann seinen monotonen Vortrag.
    Marthes kritzelte einige Worte auf einen Zettel, den er danach Icherios hinschob. Wirst du den Puppenmacher noch einmal besuchen?
    Der junge Gelehrte gab vor, mitschreiben zu müssen, um Zeit zu gewinnen. Über die Ereignisse der letzten Nacht hatte er Kroyan Nispeth beinahe vergessen. Sollte er sich zuerst auf das Schattenwesen konzentrieren oder beim Puppenmacher einbrechen, um Beweise zu suchen? Oder du hältst die Füße still und hoffst darauf zu überleben , flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, doch Icherios verwarf den Gedanken sofort wieder. Er war es seinem Freund schuldig, dessen Mörder zu finden.
    »Ja, heute Nacht« schrieb er auf den Zettel und schob ihn Marthes zu. Bei der Vorstellung, in das Haus des Puppen­machers einzubrechen, schnürte ihm die Angst die ­Kehle zu.
    Ich komme mit.
    Icherios schüttelte den Kopf. Zu gefährlich.
    Eben.
    Wenn mir etwas passiert, muss jemand die Stadtwache zu Nispeth schicken.
    Zu zweit ist es sicherer.
    »Nein«, flüsterte der junge Gelehrte. »Ich gehe allein.«
    Frissling starrte ihn erbost an. Der Mann hatte Ohren wie ein Luchs.
    Keine Diskussion. Er wollte nicht riskieren, noch einen Freund zu verlieren.
    Die restlichen Vorlesungen vergingen in quälender Langsamkeit, obwohl Marthes immer wieder versuchte, ihn zum Lachen zu bringen. Auch die anderen Studenten wirkten übermüdet und blickten sich bei jedem ungewohnten Geräusch ängstlich um. Sie spüren es, dachte Icherios. Sie spüren die

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