Der Kraehenturm
raus. Er versuchte, den Strigoi von sich zu schieben, aber dessen Leib war so schwer, dass es eine Weile dauerte. Eiter sickerte aus den Wunden, durchtränkte Icherios’ Kleider. Der junge Gelehrte schüttelte sich vor Ekel, stieß einen gutturalen Schrei aus und schob die Kreatur von sich. Angewidert versuchte er sich von Blut, Schleim und Eiter zu befreien, verschmierte es dabei aber nur zu einer gelbgrauen Schicht, die seinen Körper bedeckte.
Kurz entschlossen nahm er seine Laterne, schob sich durch die durchbrochene Mauer und fand sich in einem schmalen, lehmigen Gang wieder. Schritt für Schritt kämpfte er sich vorwärts. Manchmal wurde es so eng, dass er nur mit angehaltenem Atem hindurchkam. Erfrorene Schaben zerplatzten unter seinen Füßen, und hervorstehende Wurzeln kratzten über seine Haut. Der junge Gelehrte verlor jegliches Zeitgefühl. War er seit Stunden, Tagen oder Minuten in dem Stollen? Immer wieder glaubte er, Arme aus der Wand ragen zu sehen, doch es waren nur knorrige Wurzeln, an denen schleimige Nacktschnecken ihre Spuren hinterließen, während schillernde Käfer sie bei lebendigem Leib auffraßen. Endlich flimmerte ein schwaches Licht am Horizont. Tränen traten ihm in die Augen, als er ins Freie stolperte. Er stand in einem ausgebrannten Haus etwas außerhalb von Heidelberg, nicht weit von der Katharinenmühle entfernt.
Erschöpft setzte er sich auf die Reste einer steinernen Kaminbank und atmete die klare, kalte Luft ein. Wie lange mochte der Strigoi hier gelebt haben? Waren die Legenden falsch, besaß diese Kreatur doch noch so etwas wie Verstand? Wie sonst hätte sie so lange unbemerkt überleben können? Nachdem er sich beruhigt hatte, schmolz er Schnee in seinen Händen, um sich notdürftig damit zu reinigen. Er wollte weder den Bewohnern des Magistratum noch einem neugierigen Nachtwächter erklären müssen, was vorgefallen war. Ein fernes Jaulen ließ ihn aufhorchen, doch nach einer Weile kehrte die Stille zurück.
43
Wahrheiten
G
22. Novembris, Heidelberg
I ch werde nicht untätig rumsitzen, solange der Mörder meines Bruders frei herumläuft.« Der Diakon gestikulierte zornig, wobei er beinahe einen Hut umstieß.
Sie befanden sich wieder in Gismaras Haus, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen.
»Das erwarte ich doch nicht, aber Auberlin ist gefährlich, und wir kennen seine Pläne nicht.«
»Dann fragen wir ihn.«
Gismara seufzte. Inzwischen kannte sie den sturen Ausdruck in seinem Gesicht. Sie würde ihn nicht so leicht von seinem Vorhaben abbringen können. Zudem wollte sie selbst gerne wissen, was hier vor sich ging. Sie war nicht bereit zu glauben, dass Auberlin, ihr Mentor, ein Mörder war. »Unter einer Bedingung.«
»Ich höre.« Er blickte sie misstrauisch an.
»Wir bitten einen Freund von mir, eine Werratte, uns zu unterstützen.«
Sah der Diakon tatsächlich gekränkt aus?
»Ich werde mit einem alten Mann schon fertig.«
»Er ist mehr als das, und du bist nur ein Geistlicher.«
»Dieser Priester hat dich ohne Schwierigkeiten gefangen genommen.«
»Nur weil du mich überrascht hast«, fauchte Gismara. »Ich brauchte nicht lange, um mich zu befreien.«
»Wenn ich dich töten wollte, wärst du innerhalb von Sekunden tot.«
Gismara lachte verächtlich. »Versuch es doch.« Sie empfand die Diskussion als lächerlich. Er mochte einiges über Hexen wissen, aber seit dem Ende der Inquisition gab es keine Priester mehr, die sich auf das Töten von Hexen spezialisiert hatten. Da konnte er noch so viel mit der Anzahl der Hexen prahlen, die er angeblich getötet hatte. Zudem wollte sie ihn nicht in Gefahr bringen, musste sie sich eingestehen. Verstohlen strich sie über ihren Bauch. Sie war schwanger. Von einem Priester. Das zugleich schönste und schrecklichste Ereignis in ihrem Leben. Es hatte ihre Gefühle dem Diakon gegenüber vollkommen auf den Kopf gestellt. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie ihn unauffällig berührte oder ihm auf der Straße hinterherblickte, wenn er sie verließ.
Er seufzte und blickte sie lange an. »Warte hier, ich muss dir etwas zeigen.« Dann trat er dicht an sie heran. »Was auch immer du nachher denken wirst, vergiss nicht, dass ich keine Wahl hatte und ansonsten immer ehrlich zu dir war.«
Sofort kehrte das alte Misstrauen zu Gismara zurück. Was hatte der Priester ihr verheimlicht? Unruhig wanderte sie im Haus auf und ab, nachdem er gegangen war. Unzählige Fragen wirbelten in ihrem Kopf durcheinander.
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