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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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vor den Blicken neugieriger Menschen, während sie wie im Auge eines Sturms ins Mondlicht hinaufblickte.
    »Es wird nicht lange wehtun«, versprach ihr der Verräter und zog einen spitzen Dolch. Er holte aus, sie spürte einen scharfen Schmerz an ihrer Kehle, dann Wärme, die ihr den Hals hinunterrann. Ich hätte Icherios eine Nachricht hinterlassen sollen, schoss es ihr noch durch den Kopf, dann umfing sie die Dunkelheit.

42
    Der Karzer
    G
    21. Novembris, Heidelberg
    D er Morgen begann trübe und wurde auch nicht besser, als Icherios das Gesicht Professor Frisslings in der ersten Stunde erblickte. Der Jesuit lauerte nur auf ein weiteres Vergehen des jungen Gelehrten, um ihn dem Karzer einen Schritt näher bringen zu können.
    In der Mittagspause versuchte Marthes ihn zu überreden, den Nachmittag bei einem anderen Studenten zu verbringen.
    »Seine Gastfamilie hat ein üppiges Essen für uns vorbereitet.«
    Icherios zögerte. Es gab so viele Dinge zu tun, zudem war es riskant, mit seinem unvollständigen Schatten bei Tageslicht umherzulaufen, aber er wollte seinen Freund nicht schon wieder enttäuschen und fürchtete sich, ins Magistratum zurückzukehren. Er hatte Angst vor Franz und verzweifelte zugleich an der Tatsache, dass er über keine handfesten Beweise für dessen Schuld verfügte.
    »Wir müssen doch eh zur Sperrstunde aufhören, und dann hast du noch genug Zeit für deine verrückten Aufgaben«, versuchte Marthes ihn weiter zu überreden.
    Mit einem Seufzen stimmte der junge Gelehrte zu.

    Thomas, der Student, der die Feier ausrichtete, lebte im obersten Stockwerk eines alten Fachwerkhauses. Die Familie, die ihr Einkommen durch das Aufnehmen von Studenten aufbesserte, hatte bereits ihren Wohnraum leer geräumt und mehrere große Tische hineingestellt, sodass ausreichend Platz für die Studenten zur Verfügung stand. Während die Töchter bedienten, unterhielt sie der Vater mit Geschichten von seinen Reisen und Erlebnissen mit den Kunden seines Weinhandels. Das Essen war traditionell und reichlich, wenn auch teilweise etwas verkocht. Dazu wurden ihnen verschiedene vollmundige Weine serviert, von denen vor allem die herben Rotweine Icherios’ Geschmack trafen. Dennoch hielt er sich zurück, da er fürchtete, sich im Rausch zu verraten oder aus Unvorsichtigkeit seinen fehlenden Schatten zu offenbaren. Die Stimmung wurde schnell immer ausgelassener, und der junge Gelehrte fühlte sich wie ein Fremdkörper, da er in die trunkenen Lieder als einzig Nüchterner nicht so recht einstimmen wollte. Ständig blickte er nach draußen und hoffte, die ersten Rufe der Nachtwächter zu hören. Zu unruhig war er, um die Feier zu genießen und sich der Gefahr, in der er schwebte, zu bewusst.
    Endlich riefen die Nachtwächter die Sperrstunde aus. Iche­rios wollte gerade aufstehen, als die Tür aufgerissen wurde und der Pedell gemeinsam mit einem halben Dutzend Männern in den Raum stürmte, die die Studenten umzingelten. Icherios war zu entsetzt, um dem Pedell zu lauschen, als er ihre Verstöße und die dazugehörigen Paragrafen zitierte. Er blickte hilfesuchend zu Marthes und fing einen heimtückischen Blick auf. Der junge Mann grinste boshaft und gab einer der Wachen einen unauffälligen Wink. Sofort wurde Icherios von den anderen getrennt und aus dem Haus gebracht. Zuerst versuchte er, sich zu wehren, doch der Griff der ­Männer war eisern. Er verstand nicht, was hier vorging. Wollte die Universität ein Exempel statuieren? Aber warum wurde er von den anderen getrennt, und was hatte es mit Marthes’ eigentümlichem Verhalten auf sich?
    »Wohin gehen wir?«
    Die beiden Wächter ignorierten seine Frage und zerrten ihn durch dunkle Seitenstraßen in einen abgelegenen Teil Heidelbergs, bis sie an einem kleinen Platz angekommen waren, um den sich nur unbewohnte Häuser befanden. Eine rutschige Treppe führte zu einer massiven Tür, die einer der Wächter aufschloss. Dann wurde Icherios hineingeschubst und hinter ihm die Tür verriegelt. Immerhin waren sie so freundlich, ihm eine Laterne dazulassen.
    Der junge Gelehrte blickte sich um. Durch das schmale vergitterte Fenster in der Tür fiel ausreichend Licht, um den dreckigen Boden und die bemalten Wände zu erkennen. Das musste der Karzer sein, vor dem ihn Marthes gewarnt hatte. An den Wänden waren die von Studenten gemalten Bilder zu erkennen. Eine Landsmannschaft war zu sehen, die vor hundert Jahren besonders stark in Heidelberg vertreten gewesen waren. War das nur ein

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