Der Kraehenturm
niemals den Kampf.
Als sie um die Ecke bog, sah sie Flavia, die vor einem rostigen Pflug mit starren, leblosen Augen auf dem eisbedeckten Pflaster lag, hinter ihr die toten Körper der beiden anderen, jungen Rüden. Sie wiesen keine äußerlichen Verletzungen auf. Nur die eingekniffenen Schwänze zeugten von der Angst, die sie in ihren letzten Minuten verspürt hatten. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wandte sich ab und blickte in eine Wolke aus lebendig gewordenem Schatten, die selbst ihr kaltes Vampirherz angstvoll verkrampfen ließ. Ich bin noch nicht bereit zu sterben, begehrte sie auf, während sie zugleich wusste, dass dies ihre letzten Minuten auf Erden waren. Ich muss Icherios warnen. Sie drehte sich um und rannte so schnell sie konnte von der Schattenkreatur fort, sprang eine Hauswand empor, hielt sich in den kleinsten Spalten fest und huschte mit der Eleganz einer Spinne hinauf. Dann sprintete sie über die Dächer, jetzt war ihr auch egal, ob sie Geräusche verursachte. Wenn sie von einem Giebel zum nächsten sprang, barsten die Ziegel mit einem lauten Krachen unter ihren Füßen. Sie hinterließ eine Spur aus aufflammenden Lichtern in den Häusern.
Sie musste es schaffen. Schon tauchten die Umrisse der Heiliggeistkirche auf, deren Turm das gelbe Mondlicht einen gespenstischen Glanz verlieh. Sie wagte nicht, sich umzudrehen, dennoch spürte sie das Schattenwesen näher und näher kommen. Ich muss auf die Straße! Der Schatten wird es nicht wagen, sich vor so vielen Menschen zu zeigen. Mit einem gewaltigen Satz stieß sie sich ab und landete auf dem Kopfsteinpflaster vor der Kirche. Es knirschte in ihren Knien, doch sie ignorierte den flüchtigen Schmerz und rannte weiter. Carissima zwang sich, langsam zu laufen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Im Licht der Laternen schlenderten Passanten und verliebte Paare durch die Nacht. Als sie sie beiseitestieß, drehten sie sich mit einem empörten Aufschrei um und blickten ihr missbilligend hinterher. Eine junge Blondine mit einem einfältigen Hütchen konnte sich gerade noch an ihrem ältlichen Begleiter festhalten, um einen Sturz zu verhindern. Es war Carissima gleich. Sie musste Icherios warnen. Tinuvet, ich hätte dir zuhören müssen. Die Angst, ihn womöglich nie wiederzusehen, brach ihr beinahe das Herz. So lange hatte sie gesucht und nun, da sie glaubte, ihren Seelengefährten gefunden zu haben, durfte sie einfach nicht sterben. Nicht aufgeben, versuchte sie sich zu ermutigen. Nicht alle deine Vorausahnungen bewahrheiten sich.
Schon bald musste sie die Sicherheit der beleuchteten Straßen wieder aufgeben, um sich durch schmale, dunkle Gassen dem Magistratum zu nähern. Ein feiner Schweißfilm benetzte bereits ihre Haut, das Zeichen äußerster Anstrengung bei einem Vampir, als sie noch an Geschwindigkeit zulegte. Sie verlangte ihrem Körper das Letzte ab. Als sie um die nächste Ecke gebogen war, hielt sie abrupt an. Der Weg war von wirbelnden Schatten eingenommen worden. Keuchend wandte sich um und lief in eine andere Gasse, doch schon bei der übernächsten Abzweigung stand sie erneut dem Schattenmonster gegenüber. Es treibt mich weg vom Magistratum, erkannte sie, nachdem es sie immer wieder zur Umkehr zwang. Sie musste ihre Nachricht überbringen, bevor es ihr das Leben aussaugen konnte. Mitten im Rennen setzte ihr Herzschlag für eine Sekunde aus. Sie war tot, untot. Vermochte das Wesen ihr überhaupt zu schaden? Sie fasste einen waghalsigen Plan, wählte einen Weg, der sie näher zum Magistratum bringen würde. Die lebendig gewordene Finsternis erwartete sie bereits. »Verzeih mir, Tinuvet«, flüsterte sie und trat in den wogenden Schatten hinein.
Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrer Leibesmitte. Sie blickte an sich hinunter und sah in der wirbelnden Schwärze einen hölzernen Pflock von hinten aus ihrem Bauch ragen.
»Ruhig, meine Schöne«, flüsterte jemand in ihr Ohr. »Bald ist es vorbei.«
Sie war so sehr auf das Schattenwesen konzentriert gewesen, dass sie den Mann, der von hinten an sie heranschlich, nicht bemerkt hatte. Carissima wollte nach dem Pflock greifen, ihn aus sich herausziehen, doch sie konnte sich nicht mehr bewegen, ihre Muskeln erstarrten. Ein Pflock tötete einen Vampir nicht, aber er bannte sie in vollkommene Bewegungsunfähigkeit. Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie nach hinten in die Arme des Mannes sank. Der Schatten wirbelte im Kreis um sie herum, schützte sie
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