Der Kraehenturm
übler Scherz von Marthes und seinen Kommilitonen? Verspätete Rache für sein Ausbleiben im Neckartänzer ?
Icherios zitterte, als er einen blutigen Handabdruck an einer Wand entdeckte. Oder war es nur Farbe? Er bemühte sich, die aufkeimende Panik zu unterdrücken und logisch zu denken. »Die höchste Tugend ist die Freiheit von Emotionen«, flüsterte er seinen Leitsatz. Er war in einem Raum eingesperrt, wie sollte hier etwas unbemerkt an ihn herankommen?
Plötzlich erklang ein Knirschen aus der Wand. Der junge Gelehrte hastete auf die andere Seite und drückte sich gegen den feuchten Stein. Ein kratzendes Geräusch, als ob Krallen über Stein fuhren, drang ihm durch Mark und Bein. Danach herrschte Stille.
Icherios’ Herz raste, sein Atem ging stoßweise. Was sollte er tun? Langsam schritt er zur Wand, presste ein Ohr dagegen. Erst hörte er nichts, dann einen Atemzug gepaart mit einem schmatzenden Laut, gefolgt von dem kratzenden Geräusch. Vorsichtig schlich er zur gegenüberliegenden Seite zurück. Tränen rannen ihm über die Wangen. Er wagte nicht, gegen die Tür zu hämmern oder nach Hilfe zu rufen, aus Angst, das Wesen, das hinter der Mauer lauerte, damit nur anzutreiben.
Die Zeit verging. Ab und an erklang das Kratzen und Schmatzen, dazwischen beklemmende Stille. Irgendwann verließen den jungen Gelehrten die Kräfte. Er sackte in einer Ecke zusammen. Der Verlust seines Schattens und die damit verbundene Schwäche machten sich bemerkbar.
Auf einmal hämmerte etwas gegen die Wand, Mörtel rieselte, ein Stein wackelte. Icherios wimmerte leise. Was auch immer das war, es hatte bereits andere Studenten geholt, und er konnte sich nicht wehren, weil er keine Waffe bei sich trug.
Die Anstrengungen der Kreatur verstärkten sich, der Stein löste sich und fiel mit einem lauten Krachen zu Boden. Ein klauenbewehrter Arm, übersät mit schwärenden Wunden, fuhr durch die Öffnung, tastete blindlings nach Beute. Icherios schrie auf. Der Arm verschwand, ein Gesicht presste sich gegen das Loch, ein rot glühendes Auge funkelte ihn boshaft an.
Der junge Gelehrte rappelte sich auf. Er brauchte eine Waffe! Der Stein! Er nahm all seinen Mut zusammen und stürzte zu dem am Boden liegenden Mauerstück, packte es und zog sich damit in seine Ecke zurück. Ein unmenschliches Heulen erklang, als das Wesen in Raserei verfiel und sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Wand warf. Drei Anläufe brauchte es, dann brach es hindurch. Icherios starrte die Kreatur entsetzt an. Es war seine Zukunft: ein Strigoi! Überlange Arme, die in scharfe Krallen mündeten, spitze Fangzähne und eine unbändige Mordlust.
Das Wesen stürzte sich in blinder Wut auf den jungen Gelehrten, der sich in letzter Sekunde zur Seite werfen konnte. Trotzdem fuhren die Klauen über seine Schulter, Blut spritzte hervor. Der Strigoi leckte sich Icherios’ Lebenssaft von den Fingern, dann stockte er und legte den Kopf schief. »Wie ich«, schnarrte es.
»Nein«, stammelte Icherios. »Nein, ich bin nicht wie du.«
Langsam ging die Kreatur auf ihn zu. Die Augen leuchteten in einer Mischung aus Gier und Trauer. Der junge Gelehrte versuchte auszuweichen, doch es gab keinen Platz. Das Wesen drängte ihn in die Ecke, während Icherios weiterhin den Stein umklammert hielt.
»Töte mich«, krächzte es. Tiefer Gram lag in seinen Worten. »Bitte.«
Icherios schüttelte den Kopf. Er wollte kein weiteres Leben auslöschen.
Der Strigoi schlug mit der Faust gegen die Wand. In seinem Gesicht war ein ständiger Wechsel der Gefühle zu erkennen, mal Trauer, dann wieder reinste Wut. »Vernichte mich, bevor ich dich fresse.«
»Du kannst es kontrollieren, du musst mich nicht verletzten.«
»Nein«, brüllte das Wesen und warf sich zurück. Der junge Gelehrte beobachtete, wie der letzte Funke Menschlichkeit aus ihm wich, das geifernde Maul aufklaffte und es auf ihn zusprang. Panisch schloss er die Augen, holte mit dem Stein aus und schlug zu. Er traf auf Widerstand, etwas barst unter dem Aufprall, heiße Flüssigkeit spritzte ihm ins Gesicht. Dann riss ihn ein schwerer Körper um, und plötzlich war es still. Langsam öffnete er die Augen. Der Strigoi lag reglos auf ihm, verströmte aus den schwärenden Wunden den Geruch von Fäulnis. »Oh, nein«, keuchte er. Er hatte schon wieder getötet. Die Schuldgefühle überrannten ihn. Vielleicht hätte er ihn irgendwann heilen können. Noch hatte es einen Funken Menschlichkeit in dem Wesen gegeben.
Er musste hier
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