Der Kraehenturm
Sie sehnte sich nach einem Augenblick der Ruhe. Ihre Gefühle für den Priester beunruhigten sie. Nicht nur dass sie sich schuldig fühlte, mit ihm geschlafen zu haben, ihn für seine Tat verachtete und sein Kind in ihrem Leib heranwuchs, nein, sie fühlte sich noch immer zu ihm hingezogen. Im Gegensatz zu anderen Männern wusste er, was sie war, und fürchtete sie dennoch nicht, sondern begegnete ihr mit provozierender Arroganz.
Endlich hörte sie, wie die Eingangstür sich öffnete und schwere Stiefel die Treppe hinaufstiegen. Dann trat der Priester mit grimmiger Miene vor sie, nur dass er nicht mehr wie ein Geistlicher aussah, sondern wie ein Söldner.
»Was?«, flüsterte sie.
»Die Rolle als Diakon war nur Tarnung, um Zacharas’ Mörder zu finden. Ich konnte anfangs nicht wissen, ob ich dir trauen kann, deswegen sagte ich dir nicht die Wahrheit. Mein wirklicher Name ist Silas.«
»Dann habe ich gar nicht mit einem Priester geschlafen?« Gismara fühlte sich töricht, etwas Derartiges zu fragen, aber sie spürte tiefe Erleichterung.
Silas lachte. »Nein, und bevor du zornig wirst, möchte ich etwas nachholen, das ich schon längst hätte tun sollen.« Er trat dicht an sie heran, zog sie in seine Arme und gab ihr einen heftigen, leidenschaftlichen Kuss.
Für einen Augenblick genoss Gismara seine Berührung, schloss die Augen und gab sich ihm hin. Dann begann die Wut in ihr aufzuwallen. Er hatte sie die ganze Zeit belogen, sie glauben lassen, von einem katholischen Priester schwanger zu sein! Sie stieß ihn von sich und gab ihm eine Ohrfeige. »Fass mich nicht noch mal an«, fauchte sie.
»Oh doch, das werde ich«, lachte Silas. »So oft, bis du dich daran gewöhnt hast.«
Sprachlos starrte sie ihn an. Wie konnte er nur diese Frechheit besitzen. Sie schnaubte wenig damenhaft und zog sich Mantel und Handschuhe an.
»Ich gehe zum Magistratum und informiere Franz. Ihm kann ich wenigstens vertrauen.«
Silas folgte Gismara durch das wirre Gefüge aus Treppen und Hängebrücken, die das Magistratum ausmachten. Was für ein wahnsinniger Geist hatte sich dieses Konstrukt erdacht?
Die Hexe blickte ihn immer noch nicht an. Wie er erwartet hatte, war sie jetzt schon zornig, dabei kannte sie noch nicht einmal die ganze Wahrheit. Trotzdem fühlte er sich erleichtert, sich nicht länger verstellen zu müssen.
Gismara führte ihn in eine gemütliche Küche und forderte ihn auf, zu warten, während sie Franz holte, um ihn einzuweihen. Sobald die Werratte den Raum betreten hatte, wusste er, dass sie niemals Freunde werden würden. Sie begehrten beide dieselbe Frau. Sorgfältig musterte er den dürren Mann, der ständig auf einer Nuss kaute. Er hatte bereits andere Wesen seiner Art getroffen und kannte ihre unglaublichen Kräfte. Selbst wenn die Abneigung zwischen ihnen offensichtlich war, wäre er doch ein guter Bundesgenosse.
»Das ist der Kerl?«, fragte Franz mürrisch. »Und dem hast du abgekauft, dass er ein Diakon ist? Mädel, ich hätte dir mehr Menschenkenntnis zugetraut.«
Ohne sich vorzustellen, ging die Werratte an den Herd und entzündete die Flammen. »Noch jemand Rührei und Speck?«
»Keine Sorge, er tötet nicht mit Gift«, grinste ihn die Hexe boshaft an.
Während Franz zu kochen begann, erklärten Silas und Gismara abwechselnd, was sie herausgefunden hatten. Nachdem sie sich alles angehört hatte, stellte die Werratte Pfanne und Teller auf den Tisch und setzte sich.
»Du bist dir ganz sicher, Gis? Das sind schwere Anschuldigungen. Könnte nicht deine Wut auf ihn die Vision beeinflusst haben?«
»Nein«, beharrte sie, doch Silas sah die Unsicherheit in ihren Augen. »Das Bild war eindeutig. Auberlin ist in Zacharas’ Tod verstrickt.«
»Wir müssen mit ihm reden«, stellte der Hexenjäger fest.
Franz würdigte ihn keines Blickes. »Wir müssen den Jungen einweihen.«
»Er wird uns nur im Weg stehen«, schnaubte Gismara verächtlich.
»Täusch dich nicht, er hat Potenzial und als Bewohner des Magistratum ein Recht darauf zu erfahren, was vor sich geht.«
»Wir erzählen es ihm, wenn es vorbei ist.«
»Nein«, beharrte Franz. »Sollte Auberlin tatsächlich in Zacharas’ Tod verwickelt sein, müssen wir ihn ausschalten, und du weißt, wie mächtig er ist.«
Gismara stöhnte genervt auf. »In Ordnung, reden wir mit ihm, anstatt den ganzen Tag mit Streitereien zu verbringen. Aber hast du schon daran gedacht, dass er mit Auberlin unter einer Decke stecken könnte?«
»Das glaube ich nicht.
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