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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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die Vorhänge zur Seite. »Seht!«
    Zu ihrer Rechten lag ein breiter Fluss, der Neckar, in dessen reißenden Fluten sich das Mondlicht spiegelte. Hinter ihm ragten die bewaldeten Hänge des Odenwaldes auf.
    Die Kutsche hatte einen Bogen geschlagen und näherte sich entlang des Flusses der Stadt. Es war ein zugleich gespenstischer als auch wunderschöner Anblick. Immer wieder zeichneten sich die Umrisse alter Festungen und Türme auf den Gipfeln ab. An den Stellen, an denen der Neckar sich verbreiterte und sein Lauf ruhiger wurde, fanden sich kleine Orte und zahlreiche Fischerboote. Schließlich tauchte nach einer weiteren Flussbiegung Heidelberg vor ihnen auf. Die meisten Gebäude befanden sich am gegenüberliegenden Ufer des Neckars, dicht an den Hügel gedrückt, und überwacht von den Ruinen des Heidelberger Schlosses, die im Dunkeln verborgen lagen. Die Stadt folgte in ihrer Breite dem Neckar, säumte ihn mit Wegen und Wiesen. Rauch stieg aus den Schornsteinen, spielte einige Augenblicke mit dem Mondlicht, bevor ein eisiger Wind ihn davontrug. Äußerlich schien alles in Ordnung zu sein, doch irgendetwas stimmte nicht und ließ Icherios fröstelnd seinen Mantel enger um sich schlingen. Sein Blick fiel auf einen Berg, der auf der anderen Seite des Neckars, gegenüber dem Schloss lag: der Heiligenberg. Das Unheilvolle strahlte von ihm aus. Gegen die dünne Mondsichel vermeinte er, die Silhouetten unzähliger Flügel und schmaler Leiber zu erkennen. Ein Vogelschwarm, der mit glühenden Augen die Nacht feierte.
    Endlich hielt die Kutsche an, und die Tür öffnete sich. »Wir sind da.« Der Doctore klang fast fröhlich. Ohne ein Geräusch oder eine Bewegung des Gefährts stieg er aus.
    Icherios folgte ihm und stürzte beinahe hinaus, doch seine Gepäckstücke blieben in der schmalen Tür stecken. Er konnte die Blicke seines eigentümlichen Reisegefährten spüren, während er seine Koffer nach draußen zerrte. Kaum hatten seine Füße den Boden berührt, schlug die Tür zu, und die Kutsche stürmte davon. Der junge Gelehrte blickte ihr nach und nahm die Umgebung in sich auf. Sie befanden sich am Fuße einer alten, ehrwürdigen Brücke, die auf acht massiven Steinpfeilern den Fluten trotzte. In ihrer Mitte ragte eine Statue empor. Ein unbewachtes Tor, dessen Gitter offen standen, führte in die Stadt.
    »Werdet Ihr abgeholt?« Der Doctore wandte sich Icherios zu.
    »Nein.« Icherios verfluchte innerlich seine Dummheit. Er hatte die Adresse, aber was half es ihm, wenn er keine Straßenkarte besaß und es tiefe Nacht war? Er hätte sich vorher erkundigen sollen, wie er zum Magistratum gelangte.
    Hufgeklapper erklang. »Ich kann Euch mitnehmen.« Das Schattenwesen zeigte auf eine Kutsche, die über die Brücke auf sie zukam. In seiner Stimme klang die Warnung mit, sein Angebot nicht auszuschlagen.
    Vor Icherios’ Augen tauchte das Gesicht des unglückseligen Mannes auf, dessen Leben das Wesen so einfach beendet hatte. Ihm behagte der Gedanke nicht, dass der Doctore wusste, wo er lebte. Aber hatte er eine Wahl?
    »Sehr gerne«, erwiderte er und zwang ein Lächeln auf seine Lippen.
    Die Kutsche fuhr in einem Bogen um sie herum, sodass sie bereits der Stadt zugewandt neben ihnen zum Stehen kam. Es war ein prächtiges Gefährt, gezogen von vier Falben, gesäumt von einem goldenen Band und mit goldenen Laternen, die die Nacht erhellten. Der Kutscher, ein breiter Mann, dessen Nase von zahlreichen Brüchen krumm und schief zusammengewachsen war, wirkte wie ein getarnter Schläger in seinem schwarzen Anzug mit goldenen Litzen und der gro­ßen, weißen Perücke.
    Der Doctore öffnete die Tür und forderte Icherios mit einem herrischen Wink auf, einzusteigen. »Wo darf ich Euch hinbringen?«
    Der junge Gelehrte nannte ihm die Adresse, wobei er die Hausnummer ausließ, während er sein Gepäck im Inneren verstaute. Der Doctore nickte und gab dem Kutscher die entsprechenden Anweisungen. Für kurze Zeit herrschte Schweigen, nachdem die Pferde auf einen lauten Peitschenknall hin angetrabt waren. Icherios fühlte sich in der Stille unwohl wie ein Versuchstier in einem Käfig.
    »Warum verbergt Ihr, wer Ihr wirklich seid?«, verlangte der Doctore zu wissen.
    Icherios stockte der Atem. »Ich verberge nichts.«
    »Der Strigoi in Euch, das magische Wesen, Ihr lasst ihm keinen Raum.«
    Icherios drückte sich in die Polster. »Woher wisst Ihr davon?«
    »Wenn man die Zeichen kennt, ist es nicht schwer zu erraten. An Euch klebt der Geruch

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