Der Kraehenturm
von Verwesung, Eure Fingernägel sind dicker als die eines gewöhnlichen Menschen, und Eure Augen erkennen in der Nacht mehr, als einem einfachen Mann möglich wäre. Nur unterdrückt Ihr das magische Wesen in Euch, sodass es seine volle Macht nicht entfalten kann.«
»Es gibt keine Magie.«
Der Schatten lachte. »Wenn Ihr das wirklich glaubt, seid Ihr kein guter Gelehrter.«
»Der Strigoi verlangt nach Menschenleben.«
»Was sind schon ein paar Leben im Vergleich zu dem, was Ihr mit Euren Forschungen und Eurem Heilwissen an Gutem bewirken könnt? Nur wenige sind mit Eurer Intelligenz gesegnet. Die Magie unterliegt ebenso wie alles andere gewissen Gesetzen. Erkundet sie, und Ihr könnt sie ebenso wie Euer Wissen über Alchemie und menschliche Anatomie nutzen.«
Icherios schüttelte abweisend den Kopf. Doch insgeheim faszinierte ihn der Gedanke. Hatte der Doctore recht? Bereits jetzt war er in der Lage, den Menschen zu helfen. Wenn er Medizin studierte, würden sich ihm ganz neue Möglichkeiten auftun. Konnte er noch mehr Gutes bewirken, wenn er den Kräften des Strigoi gestattete sich zu entfalten? Würde er eventuell bahnbrechende Erkenntnisse zum Wohle der Menschheit gewinnen, wenn er die Natur des Strigoi in sich ergründete?
Die Kutsche hielt auf einer breiten Straße, die durch den gelben Schein einer Straßenlaterne beleuchtet wurde. Feiner Nieselregen ging auf das Pflaster nieder und verlieh ihm einen gespenstischen Glanz. Der Doctore öffnete die Tür. Icherios stieg aus, wobei er sich bemühte, das Schattenwesen nicht zu berühren. »Vielen Dank«, sagte er zögerlich.
Der Doctore nickte ihm zu. »Wir werden uns wiedersehen. Und wer weiß, vielleicht sind wir magischen Wesen eines Tages diejenigen, auf die es ankommt, und müssen uns dann nicht mehr im Verborgenen halten.« Daraufhin schloss er die Tür, und die Kutsche raste davon.
5
Das Magistratum
G
21. Octobris, Heidelberg
D er nachtschwarze Himmel senkte sich dem Boden entgegen und schien die alten Steinhäuser, aus deren verschlossenen Läden nur dünne Lichtfäden drangen, in seiner eisigen Umarmung zu ersticken.
»Kronengasse sieben«, murmelte Icherios vor sich hin. Er folgte der Straße, bis er an eine Kreuzung kam. An einer Hauswand stand in schwarzen, geschwungenen Lettern Grisolder Weg . Auch die davon abzweigenden Straßen trugen den falschen Namen. Er ging an die Stelle zurück, an der die Kutsche ihn abgesetzt hatte. Von dort zweigte eine Gasse ab, die so schmal war, dass er sie zuvor übersehen hatte. Ein rostiges Blechschild hing an einem Haus. Icherios vermochte den Buchstaben K zu entziffern. Der Rest war durch Feuchtigkeit und Alter unlesbar geworden. Hatte hier einst der Name Kronengasse geprangt?
Der junge Gelehrte spähte in die Gasse. Einzig die Umrisse einer Treppe stachen in einigen Metern Entfernung aus der Dunkelheit. Der Geruch nach Fäkalien hing schwach in der Luft, nur wenig Unrat bedeckte das Pflaster. Er trat einen vorsichtigen Schritt in die Gasse. Plötzlich ertönte ein Schrei. Icherios’ Herz setzte einen Schlag aus, die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf. Dann sprang eine rot-weiße Katze hinter der Treppe hervor und stürmte an Icherios vorbei. Der junge Gelehrte fasste sich an die Brust und lehnte sich ungeachtet der Feuchtigkeit und dem schleimigen Moos gegen eine Hauswand. Er wartete, bis sich sein Herz beruhigt hatte, bevor er weiterging.
Vor dem Hauseingang, über dem eine gusseiserne Sieben prangte, blieb er stehen. Er war am Ziel. Das Gebäude wirkte schief, als wenn es jeden Augenblick in sich zusammenfallen könnte, aber es strahlte Schönheit und Stolz aus, wie es nur alte Häuser vermochten. Dicke Sandsteinblöcke, deren Farbe sich im Laufe der Jahrzehnte verdunkelt hatte, trugen ein Dach aus braunen Schindeln, auf denen Moos wucherte und in deren Rissen Gräser wuchsen. Holzläden verbargen Fenster, die seltsam willkürlich in ihrer Höhe angeordnet waren, als wenn ein Kind sie im Spiel platziert hätte. Auch in ihrer Größe und Form erkannte Icherios kein Muster. Es gab große und kleine; runde und dreieckige; quadratische und zahlreiche andere Formen. Ihre einzige Gemeinsamkeit bestand in den schwarzen, verschlungenen Runen, die ihre Rahmen bedeckten. Neben der Eingangstür, die in ihrer Gestalt an einen alten Torbogen erinnerte, hing ein Schild, auf dem Magistratum zu lesen stand. Darunter wurde die Schrift immer kleiner. Fyr entzifferte Icherios, während er die Stufen
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