Der Kraehenturm
hinaufstieg und sich zum Schild hinunterbeugte. »Magistratum fyr …«, das letzte Wort vermochte er nicht zu erkennen, obwohl aus dem danebenliegenden Fenster Licht darauf schien.
»Gib dir keine Mühe. Niemand weiß, was da geschrieben steht«, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Erschrocken fuhr der junge Gelehrte herum und verlor dabei auf den glitschigen Stufen das Gleichgewicht. Mit wild fuchtelnden Armen, die verzweifelt nach einem nicht existierenden Geländer suchten, fiel er seitlich hinunter und landete unsanft auf dem feuchten Boden.
Icherios sah zur Treppe hinüber und machte dort einen unscheinbaren Mann aus, der nur schwer zu beschreiben war: Er war weder besonders groß noch besonders dünn, nicht alt, aber auch nicht jung, und trotzdem brannte sich sein Anblick in Icherios’ Gedächtnis ein. Denn er strahlte etwas aus, das Misstrauen erweckte. Lag es an der zerknitterten Kleidung oder der spitzen Nase? Oder waren es die merkwürdigen Stoppelhaare, die seinen Kopf bedeckten und eher an den dunkelgrauen Pelz eines Tieres erinnerten als an das Kopfhaar eines Menschen?
»Da ist aber jemand schreckhaft«, grinste der Mann und entblößte eine Reihe gelber Zähne. Geschickt sprang er von den Stufen herunter und bot Icherios eine Hand an.
Der junge Gelehrte zögerte, die langen, dünnen Finger zu ergreifen. Dann besann er sich auf die Grundregeln des guten Benehmens und griff zu. Beinahe wäre er wieder zurückgefallen, als er den Ring an der Hand des Mannes erkannte: das Signum Hieroglyphica Monas! Es musste sich um ein Mitglied des Ordo Occultos handeln.
»Ich habe Sie nicht kommen hören«, erklärte Icherios verlegen, während er seine Kleidung abklopfte.
»Ich bin Franz, und das Sie kannst du dir sparen. Was willst du, Kleiner?«
»Ich gehöre zum Ordo Occulto Karlsruhe.« Icherios deutete auf den Ring an seiner Hand. Voller Schrecken wurde ihm bewusst, dass er das Signum hätte ablegen sollen, bevor er in die Geisterkutsche gestiegen war. Der Doctore schien viel zu wissen, vielleicht nun auch, für wen Icherios arbeitete und wo er ihn finden würde.
»Dann bist du der Neue!« Franz griff in einen Beutel, der an seinem Gürtel hing, und schob sich eine Haselnuss in den Mund. »Auberlin schläft bereits.« Franz zwinkerte ihm zu. »Aber ich kann dich umherführen. Zuerst muss ich allerdings etwas essen.« Er schob sich eine weitere Nuss zwischen die unregelmäßigen Zähne. »Also entweder kommst du mit in die Küche, oder du suchst dir selbst einen Platz.«
»Ich nehme Ihr … dein Angebot gerne an«, versicherte Icherios eilig und schnappte sich sein Gepäck.
Franz holte einen Schlüsselbund hervor, an dem über zwei Dutzend Schlüssel klimperten, deren Köpfe Buchstaben darstellten. Er nahm den K-Schlüssel, steckte ihn ins Schloss und öffnete die Tür. Doch zu Icherios’ Überraschung befand sich dahinter gleich die nächste Tür. Franz ergriff nun den A-Schlüssel, öffnete auch diese Tür, nur um vor der nächsten zu stehen.
»Du bekommst auch noch einen Bund mit Alphabetschlüsseln«, erläuterte Franz gelassen, ohne Icherios’ verblüffte Miene zu beachten. »Für den Eingang wählst du sie in einer bestimmten Reihenfolge wie in dem Wort Kalypso .«
»Ist das nicht ein wenig umständlich? Ein Einbrecher könnte ebenso gut durch ein Fenster einsteigen.«
»Ja, aber Trolle passen nicht durch Fenster.« Franz zuckte mit den Schultern. »Seit ein erbostes Exemplar unsere Eingangstür mit einem Tritt ins Jenseits befördert hat, besteht Auberlin auf dieser Sicherheitsmaßnahme. Trolle sind nicht sehr gut auf ihn zu sprechen, musst du wissen.«
Nach der achten Tür eröffnete sich endlich der Eingangsbereich vor ihnen. Während Franz eine Tür nach der anderen hinter ihnen zuzog und abschloss, blickte sich der junge Gelehrte um. Es war das eigentümlichste Gebäude, das er je gesehen hatte. Sie befanden sich in einem schmalen Korridor, der von vier einfachen Holztüren gesäumt wurde. In der Mitte lag eine kreisförmige Fläche, von der sich alle erdenklichen Arten von Treppen nach oben wanden und jeweils an einer Tür endeten. Dabei waren die dahinterliegenden Räume, die zum Teil nur von gewagten Balkenkonstruktionen in der Luft gehalten wurden, farblich so angepasst, dass man sie erst auf den zweiten Blick entdeckte. Zuerst hatte man das Gefühl in einer Halle zu stehen, in der sich nur die Treppen in die Höhe schraubten. Diese verrückte Anordnung erklärte auch die
Weitere Kostenlose Bücher