Der Kraehenturm
die in der Kälte kahl und trostlos wirkten. Im Zentrum stand ein niedriges, dafür umso ausladenderes Steinhaus, um das sich zwei Scheunen und ein Geräteschuppen gruppierten. Eine dichte Reihe Büsche und Bäume schützte die Gebäude vor dem aus Norden um den Hügel pfeifenden Wind. Um einen überdachten Brunnen, der im Sommer mit Kästen voller Geranien geschmückt war, gackerte ein halbes Dutzend Hühner.
Kaum betrat Icherios den Hof, kam ein älterer, drahtiger Mann mit einer breiten Zahnlücke aus einer der Scheunen.
»He, Sie! Kann ich Ihnen helfen?«, rief er nicht unbedingt unfreundlich.
Der junge Gelehrte ging zu ihm hinüber und stellte sich vor.
»Kilian Dirfel, nennt mich einfach Kil.« Der Mann musterte Icherios, dann blieb sein Blick auf dessen Ring mit der Monas Hieroglyphica hängen. »Wird auch Zeit, dass einer von Euch kommt, um die restlichen Papiere abzuholen.«
»Wovon sprecht Ihr?«
»Seid Ihr nicht von der Gilde der Kartenzeichner? Ich dachte, nur die trügen diesen Ring.« Kil deutete auf Icherios’ Finger. »Habt Ihr ihn etwa gestohlen?«
Was für eine Frage. Wenn dem so wäre, würde er es wohl kaum zugeben, überlegte Icherios, aber seine Neugierde war geweckt. Er hatte noch nie von einer Gilde der Kartografen gehört, aber der Mann schien zumindest einem Mitglied des Ordo Occulto begegnet zu sein.
»In unseren Unterlagen existieren einige Fehler«, sagte er mit gespielter Zerknirschtheit und senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Der Verantwortliche trinkt zu viel, müssen Sie wissen. Ich benötige deshalb einen Bericht von Ihnen, damit ich unsere Dokumente vervollständigen kann.«
So leichtgläubig, wie Icherios gehofft hatte, war der Mann nicht. Misstrauisch beäugte er den Ring. »Das soll ich Ihnen einfach so glauben? Was, wenn Sie den Ring tatsächlich gestohlen haben? Man könnte mich zur Rechenschaft ziehen.«
Der junge Gelehrte starrte ihn stumm an und suchte nach einer sinnvollen Antwort.
Kil wirkte genervt. »Eine kleine Motivationshilfe wäre da durchaus angebracht.«
Jetzt verstand auch Icherios, worauf der Mann hinauswollte, und kramte in seiner Tasche nach einigen Münzen, die er dem Weinbauern dann in die Hand drückte.
»Das ist aber eine sehr kleine Hilfe.«
Icherios seufzte und gab dem Mann einen weiteren Kreuzer.
Kil nickte. »Kommen Sie mit.« Gemeinsam gingen sie auf das Wohnhaus zu. »Vor zwei oder drei Jahren kamen zwei Männer.«
»Wie sahen sie aus? Oder nannten sie ihre Namen?«
Kil runzelte die Stirn. »Zirkel und Hoherweg, oder so.«
Er musste Vallentin Zirker und Auberlin von Hohengassen meinen! Icherios unterdrückte seine Aufregung. Endlich eine Spur und ein Beweis, dass die beiden sich kannten!
»Und warum waren sie hier?«
»Sie wollten in meinen Keller.« Kil blickte ihn misstrauisch an. »Euer Schriftführer muss mehr als nur ein wenig betrunken gewesen sein.«
Icherios zuckte mit den Schultern. »Ich überprüfe nur, ob seine Angaben stimmen.«
»Natürlich.« Kil grinste spöttisch. »Also mein Urgroßvater, Gott hab ihn selig, war besessen von Geistern und anderen Geschöpfen. Er sammelte jedes Dokument über diese Wesen, derer er habhaft werden konnte, und begann, eine gewaltige Karte zu zeichnen, in die er alle Sichtungen und Mythen eintrug.«
Vallentin liebte das Anfertigen von Landkarten. Deshalb hatten sie ihn also nach Heidelberg geschickt.
»Dieser Zirkel kam regelmäßig. Zuerst kopierte er die Karte, dann fing er an, sie zu vervollständigen. Doch dann, kurz bevor er fertig war, verschwand er einfach. Nur dieser Hoherweg kam noch einmal, um die Karten mitzunehmen.«
Sie betraten das Haus, das aus hellem Sandstein gebaut worden war und an dem alte Werkzeuge und Hufeisen als Dekoration hingen. Die Decke und der Boden waren im Inneren mit Holzdielen gedeckt, die leise knarrten, als sie darüber gingen. Eine große Wohnküche mit einer Kochstelle, über der Töpfe, Pfannen und Küchengerätschaften an der Wand hingen, war der erste Raum. Dort standen ein Tisch und eine Eckbank, auf der geblümte Kissen lagen. Der Geruch von einer bunten Mischung von Kräutern, die an einem Regal zum Trocknen aufgehängt waren, lag in der Luft. Von der Küche ging es in den Lagerraum, der offensichtlich auch von jemandem als Schlafplatz genutzt wurde. Zwischen Säcken, Kisten und einem halben Räucherschinken lagen ein Strohsack und eine dünne Decke. Kil schob beides beiseite, wodurch eine Luke zum Vorschein
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