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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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vernünftigen Lernrhythmus entwickelt, der ihn allerdings nicht davon abhielt, nahezu jeden Abend in den Neckartänzer zu gehen und einige vergnügliche Stunden mit Julie zu verbringen. Er mochte ihre Sorglosigkeit und ihre lebensbejahende Art.
    Das Leben im Magistratum war ruhig. Der geheimnisvollen Gismara war er bisher nicht begegnet, aber Franz war offensichtlich vernarrt in sie, obwohl er sie zugleich zu fürchten schien. Icherios hatte versucht, mehr über sie zu erfahren, doch Franz schwieg trotz ihrer sich langsam ent­wickelnden Freundschaft beharrlich. Es gab Icherios ein Rätsel auf, warum Auberlin Franz im Ordo Occulto duldete. Er war weder gelehrt noch fleißig oder mit besonderen körperlichen Fähigkeiten versehen, dafür aß er mehr als jeder Mensch, dem Icherios zuvor begegnet war, und verschlief den halben Tag.
    Am Ende der Vorlesung eilte Icherios hinaus, seine Ledertasche fest an die Brust gedrückt und den Kopf gesenkt, damit er nicht weiter auffiel. Seinen Kastorhut hielt er zusammen mit seiner Brille in der linken Hand. Maleficium schlief friedlich in der Innentasche seines Mantels. Bisher war die Ratte zum Glück niemandem aufgefallen.
    Draußen presste sich Icherios mit dem Rücken gegen die steinerne Wand und holte tief Luft. Seine Knie zitterten noch immer. Er zog seinen monströsen Hut auf und setzte seine Brille mit den runden, gelb getönten Gläsern auf. Dann schloss er die Augen und streichelte Maleficium. Das weiche Fell des Nagers beruhigte ihn.
    »Da ist er ja!«
    Icherios fuhr zusammen. Er sah eine Gruppe von Studenten, mit denen er die letzten Nächte im Neckartänzer gefeiert hatte, auf ihn zueilen.
    »Dem hast du es aber gezeigt!«
    »Wenn ich nur auch so mutig wäre!«
    »Es war wirklich an der Zeit, dass ihm mal jemand die Meinung sagt!«
    Alle redeten gleichzeitig auf ihn ein, klopften ihm immer wieder auf die Schulter. Icherios fühlte sich unbehaglich und stolz zugleich. Sein ganzes Leben lang war er ein Außenseiter gewesen, und nun beachteten und respektierten ihn die anderen, das war ein neues Gefühl für ihn. Getragen von der guten Stimmung wäre es Marthes beinahe gelungen, ihn dazu zu überreden, den Tag mit einigen Bechern Wein und Bier ausklingen zu lassen, doch er hatte andere Pläne. Zu sehr quälte ihn das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Das Studium entsprach nicht im Geringsten seinen Vorstellungen, und im Magistratum hatte es bisher auch keine seltsamen Vorkommnisse gegeben. Aus reiner Langeweile hatte er sogar schon den Codex Nocturnus gelesen, aber außer ein paar alten Weisheiten waren dem Handbuch des Ordo Occulto keine neuen Erkenntnisse abzuringen. Er wusste, dass er sich eigentlich auf die Suche nach einem Heilmittel gegen den Strigoi in ihm begeben solle, aber er konnte sich nicht dazu überwinden, sich mit dem unangenehmen Thema zu befassen. Sein Gewissen flüsterte ihm unaufhörlich zu, dass er schon immer gut im Verdrängen von Problemen gewesen war. Schmerzlich erinnerte es ihn daran, dass das auch einer der Gründe ist, warum er jahrelang von Laudanum, einer Opiumtinktur, abhängig gewesen war.
    Die einzige Abwechslung hatte Auberlin geboten, als er sein Versprechen einlöste und ihn bei einem förmlichen Dinner mit einem halben Dutzend hoher Persönlichkeiten der Universität und sogar einem Berater des Kurfürsten bekanntmachte. Außer einigen vagen Versprechungen hatte es Icherios jedoch nichts gebracht. Stattdessen hatte er mehrere Stunden den gegenseitigen Lobpreisungen lauschen müssen, während er zugleich den starken Drang verspürt hatte, den aufgeblasenen Männern zu erklären, dass die Lehre an der Universität in keinster Weise den modernen Standards entsprach.
    Nachdem er sich in der letzten Nacht noch einmal Vallentins Tagebuch angesehen hatte, beschloss Icherios, heute den Winzer aufzusuchen, bei dem Vallentin angeblich im Auftrag eines Händlers Wein gekauft haben soll. Es musste einen Grund geben, warum er die Adresse notiert hatte, obwohl seine Anstellung bei dem Weinhändler offensichtlich nur Tarnung oder gar eine Lüge gewesen war. Marthes kannte das Weingut und beschrieb ihm den Weg, nachdem Icherios behauptet hatte, dass er ein Geschenk für einen Freund in Karlsruhe benötigte, den er demnächst besuchen wollte. Eigentlich wäre es ein Fußmarsch von über einer Stunde gewesen, aber Icherios hatte das Glück, einen großen Teil der Strecke auf einem Karren mitfahren zu dürfen.
    Das Weingut lag mitten in den Weinbergen,

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