Der Kraehenturm
ein Fenster, dessen Läden sie nicht geschlossen hatten, um der frischen Nachtluft Einlass zu gewähren. Der junge Gelehrte bewunderte ihre schmale Silhouette, die sich gegen das Morgenlicht abzeichnete.
»Wie kommt eine Frau zum Ordo Occulto?«
Icherios ahnte, dass er einen Fehler begangen hatte, als sie blitzschnell zu ihm herumfuhr.
»Glaubt Ihr, nur weil ich eine Frau bin, wäre ich Euch unterlegen?«
»Nein, natürlich nicht«, stotterte Icherios.
»Was wundert es Euch dann, dass ich hier bin?«
»Ihr seid sehr schön. Viele Männer müssen Euch als Frau begehren.«
Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Und Ihr glaubt, dass ich zu Mann und Kindern hinter einen Herd gehöre?«
Der junge Gelehrte sah sich Hilfe suchend nach Franz um, doch dieser blickte kein einziges Mal von seinen Frühstücksvorbereitungen auf. »Setz ihm nicht so zu, Gis«, versuchte er sie zu beschwichtigen. »Er hat es nicht böse gemeint.«
»Das tun sie nie.«
Icherios fühlte, wie er zornig wurde. War es ein erstes Anzeichen dafür, dass der Strigoi die Kontrolle über seine Gefühle übernahm? Oder war es seine eigene Wut?
»Wenn ich eines gelernt habe, dann ist es, bei Frauen auf der Hut zu sein und sie nicht zu unterschätzen.«
Gismara betrachtete ihn argwöhnisch. »Das wäre eine außergewöhnlich vernünftige Einstellung.« Sie drehte sich wieder zum Fenster. »Ich habe Hunger, wie lange brauchst du noch, Franz?«
Icherios starrte sie einen Moment verwirrt an ob des unvermittelten Themenwechsels. Dann zwang er sich zur Ruhe und öffnete seine zu Fäusten geballten Hände.
»Wenn ihr eure faulen Hintern in die Speisekammer bewegen könntet und schon mal Brot, Käse und nach was es euch sonst gelüstet holen würdet, ginge es deutlich schneller.«
Gismara zog ihre dünnen Handschuhe aus, warf sie auf den Tisch und schlenderte in den Vorratsraum. Icherios stand ebenfalls auf. Auf dem Weg zur Vorratskammer stieß er beinahe mit Gismara zusammen, die bereits mit Krügen beladen zurückkam. Sie warf ihm einen zornigen Blick zu, dann glitt sie an ihm vorbei.
Kurze Zeit später war das Frühstück vorbereitet, und Franz brachte zwei Pfannen mit Eiern, Speck, Tomaten und Schinken. Die Nacht ging in den Tag über, die ersten Hahnenschreie erklangen, und ein grauer Morgen brach an. Sie begannen gerade damit den Tisch abzuräumen, als Auberlin die Küche betrat.
»Es gibt Arbeit.«
Franz klatschte in die Hände. »Endlich etwas zu tun, aber erst nach einem Schläfchen.«
Gismara war nicht ganz so begeistert. »Ihr wisst, dass ich sowieso schon viel zu tun habe und bereits erwartet werde.«
Der Leiter des Magistratum wirkte selbst im Gegensatz zu der zierlichen Frau klein und schmächtig. »Das ist wichtig, aber Eure Anwesenheit wird erst am Nachmittag benötigt.«
»Möchtet Ihr frühstücken?« Franz hielt Auberlin hoffnungsvoll eine Pfanne hin, in der er die Reste gesammelt hatte.
»Ein Bissen kann nicht schaden.«
Während Franz einen Teller vollhäufte, fuhr Auberlin fort. »Wir wurden vom Besitzer der Katharinenmühle gebeten, einen Geist auszutreiben, so nannte er es jedenfalls.«
»Wissen wir, ob es nur eingebildeter Hokuspokus ist, oder gibt es ein echtes Problem?«, fragte Gismara.
»Im sechzehnten Jahrhundert wurde eine vermeintliche Hexe dort am Mühlrad ertränkt. Vielleicht hat sie jemand zurückgeholt oder bedient sich ihrer Geschichte.«
Gismara nahm sich ein Stück Schinken aus der Pfanne und knabberte an ihm. »Dann geschieht es ihnen recht.«
Franz legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu beschwichtigen. Icherios schauderte noch immer bei dem Gedanken, von diesen viel zu langen, dürren Fingern berührt zu werden.
»Ich kenne die Mühle. Der Vorfall geschah vor mehreren Jahrhunderten, seither hat sie mehrfach den Besitzer gewechselt. Wir müssen ihnen helfen.«
»Wenn du es sagst.« Gismara schüttelte seine Hand ab. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Auberlin. »Mir bleibt ohnehin keine Wahl, nicht wahr?«
Icherios war froh, nicht das Ziel ihres eisigen Blicks zu sein.
»Wir treffen uns am Nachmittag.«
»Wir gehen auf Geisterjagd?« Der junge Gelehrte konnte nicht glauben, was er da hörte. Er hatte gehofft, der Ordo Occulto würde sich mit der Erforschung vermeintlich übernatürlicher Gegebenheiten beschäftigen, aber nicht aktiv gegen sie vorgehen.
»Wir schauen uns zumindest an, ob es einen Geist gibt, oder ob wir nur einem Menschen ins Handwerk pfuschen müssen«,
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