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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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breitete sich auf seinem Lendenschurz aus. Urin rann seine dürren, haarigen Beine hinunter. Flehentliche Worte kamen über seine angstverzerrten Lippen, doch der alte Vampir beachtete ihn nicht. Sein Blick ruhte auf dem sich am Boden windenden Icherios.
    »Es tut mir leid, mein Junge.«
    Dann schloss er den Käfig auf und schubste den Mann hinein. Mit einem verzweifelten Aufschrei stürzte er neben Icherios auf den Boden. Ein Schwall von Gerüchen strömte durch den Raum. Süßes, warmes Blut, das aus aufgeschürften Handgelenken tropfte. Saftiges Fleisch. Angst. Icherios hörte das pochende Herz, spürte den stoßweisen Atem des Mannes auf seiner Haut. Es verlangte ihn nach dem Lebenssaft des Mannes. Sein Magen knurrte in Vorfreude auf das menschliche Fleisch. Ein letztes Aufbäumen seines Verstandes zwang ihn zurück an die Wand. Weg von der Versuchung. Doch er hatte keine Chance. Das Verlangen war zu stark, überflutete seinen Geist. Er spürte, wie er die Krallen in das nachgiebige Fleisch des Mannes grub, wie Knochen brachen und Sehnen rissen. Dann versank alles hinter einem roten Schleier.
    Icherios wachte langsam auf. Nur ein winziger Lichtstrahl drang zu ihm hindurch. Zuerst wunderte er sich, warum sein Bett so kalt und feucht war. Hatte es so stark geregnet, dass das Wasser wieder in seine Kellerwohnung gelaufen war? Er streckte seinen Arm aus, um sich aufzurichten. Das Klirren von Eisen erklang. Schlagartig überfielen ihn die Bilder der letzten Nacht. Hastig blickte er sich um, in der Hoffnung, dass seine Erinnerungen an den Mann nur ein irrer Traum gewesen waren. Auf den ersten Blick sah er nichts Auffälliges. Jemand hatte seine Ketten gelöst. Die Käfigtür stand offen. Unter dem Fenster befand sich ein kleiner Tisch mit frischer Kleidung, einer Schüssel und einem Wasserkrug. Doch sobald seine anderen Sinne ihre Aktivität aufnahmen, wurde sich Icherios bewusst, dass irgendetwas nicht stimmte. In der Luft hing der süßliche Geruch beginnender Verwesung. Er blickte in die der Tür zugewandte Ecke des Käfigs. Auf dem Boden schimmerte es dunkel. Er strich mit zwei Fingern über den Stein und hielt sie dicht vor sein Gesicht, um im düsteren Licht etwas erkennen zu können. Eine Mischung aus geronnenem Blut und Dreck bedeckte seine Fingerkuppen. Seine Kehle zog sich zusammen. Von Ekel geschüttelt wischte er die Hände an den Fetzen seines Hemds ab. Dann fiel sein Blick auf etwas. Er zögerte. Wollte er wirklich wissen, um was es sich dabei handelte? Icherios holte tief Luft und stand schwankend auf. Langsam ging er auf den Gegenstand zu. Es war ein Finger! Offensichtlich abgerissen, der Knochen ragte aus dem Stumpf, das Fleisch war angenagt. Würgend stürzte er aus dem Käfig und erbrach sich neben der Tür. Als er die blutige, fleischige Masse sah, die aus seinem Mund quoll, übermannte ihn der Ekel. Der Drang sich zu erbrechen wurde immer heftiger. Es fühlte sich an, als würde er seine Innereien mit hinauswürgen. Irgendwann beruhigte sich sein Magen jedoch wieder, und er schwankte zum Tisch, spülte sich den Mund aus und schrubbte sich das Blut von seinen Händen. Beinahe musste er sich erneut erbrechen, als er erkannte, dass an seiner Kleidung eine Mischung aus Blut und dem Inhalt der Gedärme seines unglückseligen Opfers klebte. Schaudernd riss er sie sich vom Leib. Er spürte eine widerwärtige Kraft und Energie durch seinen Körper fließen. Noch nie hatte er sich so kräftig und gesund gefühlt, doch mit jedem Herzschlag glaubte er, das Flehen des Mannes und die Präsenz eines bösartigen Wesens in sich wahrzunehmen. Wieder musste er sich übergeben. Was hatte er nur getan? Raban hatte ihn verraten. Warum? In Icherios kochte Zorn empor, brodelte wie ein schwefeliger Sud in seinem Inneren. Er hatte nicht gewusst, dass er zu so einer Wut fähig war. Rasch zog er die frischen Kleider an, die am anderen Ende des Raumes auf einem Tisch lagen, und stürmte die Treppe hinauf.
    Das Hausmädchen Louise starrte ihn erschreckt an, als er die Kellertür aufriss und sie dabei beinahe umstieß.
    »Herr«, stammelte sie, einen Stapel frisch gewaschener Tücher schützend vor die Brust haltend. »Kann ich Euch helfen?«
    Ein Blick aus Icherios’ rot unterlaufenen Augen traf sie. Sofort verstummte die Frau.
    Der junge Gelehrte eilte zu Rabans Studierzimmer, dessen Tür er so schwungvoll aufstieß, dass sie mit einem lauten Knall gegen die Wand krachte. Er stand in einem großen Raum mit hohen

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