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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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es knirschte.
    »Vielleicht werdet Ihr erkennen, dass Ihr meine Hilfe benötigt, selbst wenn der Preis meine Errettung ist.«
    Konnte es noch schlimmer kommen?, fragte sich Icherios, als er wortlos aus dem Haus stürzte.
    Das Blut rauschte durch Icherios’ Adern. Hatte das Laudanum, von dem er jahrelang abhängig gewesen war, ihn im Rausch verwirrt und betäubt, so schärfte das Menschenblut seine Sinne um ein Vielfaches. Die Eindrücke, die auf Icherios einprasselten, während er zu seiner Wohnung zurückrannte, überwältigten ihn. Keuchend schloss er die Tür zu seinem Zimmer auf, froh, wieder in seiner gewohnten Umgebung zu sein. Maleficium begrüßte ihn mit einem erfreuten Quietschen und rannte aufgeregt in seinem Käfig auf und ab. Doch der junge Gelehrte ignorierte seinen kleinen Gefährten und stürzte direkt zu dem Krug Wasser, der auf einem Waschtisch stand, und spülte sich den Mund aus. Trotzdem vermeinte er, den Geschmack von Blut und Menschenfleisch immer noch auf der Zunge zu spüren. Icherios nahm seine Zahnbürste aus Eberhaaren und schrubbte grob über seine Zähne. Er war dabei so verzweifelt darum bemüht, auch die letzten Reste des fremden Gewebes zu entfernen, dass die rauen Borsten sein Zahnfleisch nahezu zerfetzten. Prüfend fuhr er mit der Zunge über die ebenmäßigen Reihen seiner etwas zu großen Zähne. In einer Zahnlücke hing ein Stückchen Fleisch. Würgend ergriff er einen hölzernen Zahnstocher und bohrte zwischen seinen Zähnen herum, bis er das Menschenfleisch ausspucken konnte. Der glibberige Klumpen klebte nun in der Waschschüssel. Icherios übermannte die Übelkeit. Würgend erbrach er sich in seinen Nachttopf. Dann spülte er sich den Mund erneut aus und putzte seine Zähne, bis aus seinen Mundwinkeln Blut rann. Die Schmerzen nahm er in seinem Ekel kaum wahr. Schließlich wurde ihm schwindlig. Die unseligen Kräfte des Strigoi ließen langsam nach und ließen ihn als zitternden Haufen Elend zurück.
    Taumelnd ging er zu Maleficiums Käfig und holte den Nager heraus. Den warmen Körper in seiner Armbeuge haltend, rollte er sich auf seinem Bett zusammen.
    Zuerst war Maleficium zufrieden, bei seinem Herrn liegen zu dürfen. Dann zitterten seine Schnurrhaare. Der Geruch von Blut drang an seine Nase. Flink krabbelte die Ratte zu Icherios’ Kopf und fing an das Blut aufzulecken. Stöhnend schob der junge Mann das Tier zur Seite und vergrub seinen Kopf in den Kissen. Die Minuten verschwammen. Schließlich verlor er jedes Gefühl für die Zeit und konzentrierte sich einzig auf das Pochen von Maleficiums und seines eigenen Herzens. Er freute sich, wenn sie im Gleichklang schlugen, und bewunderte die Klanggebilde, sobald das kleine Rattenherz seine eigenen Herzschläge überholte.
    Nachdem sich die Übelkeit und das Zittern gelegt hatten, fiel Icherios in einen unruhigen Schlaf.

17
    Ein unverhofftes Wiedersehen
    G
    2. Novembris, Heidelberg
    I cherios überwand seine Angst, setzte sich auf einen wackligen Stuhl, von dem die Farbe bereits abgeblättert war, schloss die Augen und stach sich mit einer goldgefassten Spritze in die Vena mediana cubiti , der dicken Vene in der Ellenbeuge. Bloß nicht ohnmächtig werden!, beschwor er sich und wagte einen vorsichtigen Blick. Dunkelrot sprudelte sein Lebenssaft in den Glaskolben, doch die erwartete Übelkeit blieb aus. Im Gegenteil: Der Anblick seines eigenen Blutes sandte wohlige Schauer durch seinen Körper. Fasziniert beobachtete der junge Gelehrte, wie sich die Spritze füllte, bewunderte die glänzenden, sattroten Tropfen. War dies eine weitere Veränderung, die dem Strigoi in ihm zuzuschreiben war? Was an ihm war überhaupt noch er selbst? Das Wohlgefühl wandelte sich in Entsetzen. Mit zitternden Fingern zog er die Nadel aus dem Arm, drückte den Daumen auf die Einstichstelle, bis der Blutstrom versiegt war, und gab dann einige Tropfen seines Blutes auf einen Objektträger aus hauchdünnem Knochen, den er unter das Mikroskop legte. Er hatte Karlsruhe regelrecht fluchtartig verlassen und war in den frühen Morgenstunden mit der Geisterkutsche nach Heidelberg zurückgekehrt. Heute gab es keine Vorlesungen, sodass er sich ganz seinen Forschungen widmen wollte.
    Icherios blickte durch das Objektiv. Seine Blutkörperchen waren größer als die eines gewöhnlichen Mannes und bewegten sich, wenn er mit einer feinen Nadel durch die Probe strich, selbstständig entgegen der so erzeugten Strömung.
    Icherios vergrub seinen Kopf in den Händen.

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