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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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Mentor war schließlich ein Vampir, was konnte Icherios ihm selbst als Strigoi schon antun?
    Einige auf dem Boden verteilte Kerzen kämpften mühsam gegen die feuchte Luft und spendeten ein unstetes Licht. Iche­rios beobachtete, wie sich sein Atem in kleinen Wölkchen vor seinem Mund sammelte. Das stete Tropfen von Wasser stand im Kontrast zum rasenden Stakkato seines Herzens. Wie würde es beginnen? In was würde er sich verwandeln? Trotz aller Nachforschungen hatte er kein genaues Bild eines Strigoi gefunden. Die Zeichnungen reichten von grotesken Riesen bis zu langzahnigen, am Boden kriechenden Geschöpfen.
    Er spürte, wie sich sein Magen vor Angst zusammenzog. Krampfhaft versuchte er, an etwas anderes zu denken, doch es war zwecklos. Sein Atem beschleunigte sich, ging in ein nervöses Hecheln über, während er gleichzeitig glaubte zu ersticken.
    Plötzlich drang ein neuer Geruch an seine Nase. Bohnerwachs. Er schüttelte den Kopf. Louise, Rabans Hausmädchen, hatte bei seiner Ankunft den Boden poliert und ihm strafende Blicke zugeworfen, als er mit dreckigen Schuhen über ihr Tagewerk getrampelt war. Aber warum waberte der Geruch auf einmal durch den Keller? Dann stellte er fest, dass er noch andere Dinge wahrnahm. Sein Ärmel roch nach Maleficium; auf seinem Hosenbein witterte er Brotkrumen, die von dem mit Sägespänen versetzten Brot, das sein Mittagsmahl gewesen war, stammten. Als Nächstes hörte er das Trappeln von Ratten in den angrenzenden Räumen und ein Stöhnen. Ein Stöhnen, das er vorher nicht bemerkt hatte. Es schien ebenfalls aus den benachbarten Kellerräumen zu dringen.
    Wieder spürte er eine Veränderung. Seine Umgebung erhellte sich. Konturen stachen hervor, die zuvor verschwommen in der Dunkelheit gelegen hatten. Die Rostflecken auf den Gitterstäben erlangten eine neue Schönheit, indem sie dem jungen Gelehrten komplexe Muster offenbarten. Fasziniert betrachtete Icherios seine Hände, verlor sich in den geschwungenen Linien seiner Haut, während seine Nase all die verschiedenen Gerüche wahrnahm.
    Dann durchzuckte ihn ein Schmerz. Keuchend sackte er an der Wand herab. Von Grauen geschüttelt beobachtete er seine Finger. Sie fühlten sich an, als ob sie auf einer Streckbank liegen und ihm langsam ausgerissen werden würden. Icherios schrie vor Schreck auf. Sie veränderten sich! Mit einem Knirschen brach der Knochen. Das vordere Bruchstück schob sich bis an die Fingerspitze, drückte gegen die Haut, dehnte sie, bis der Finger seine Länge verdoppelt hatte und die Knochenfragmente sich miteinander verbanden. Als Nächstes wandelten sich seine Fingernägel. Entsetzt betrachtete der junge Gelehrte die langen Krallen, deren gebogene Kanten messerscharf hervortraten. Ein Schrei drang über seine Lippen, als die Schmerzen auf seinen Nacken und in seinen Kiefer übergingen. Sein Fleisch spaltete sich, Blut sammelte sich in seinem Mund, als eine Reihe neuer, spitzer Zähne wuchs, während die alten als tödliche Fangzähne in die Höhe schossen. Dann brachen seine Beine. Icherios fühlte, wie sich die Knochen fetten Maden gleich durch seinen Körper wühlten, um geknickt und von dicken Muskelsträngen geschützt wieder zusammenzuwachsen.
    Schlagartig hörte die Pein auf. Zitternd lag er auf dem Boden und horchte dem Echo des Schmerzes hinterher. Leere breitete sich in ihm aus. Nach einer Weile stützte er sich keuchend auf die Ellbogen. Er schloss die Augen. Er wollte seinen entstellten Leib nicht sehen. Tränen rannen ihm über die Wangen. Ruckartig warf er sich gegen die Wand, als etwas in ihm erwachte und in einer grellen Explosion seinen Geist überrannte: maßloser Hunger, gepaart mit unbändigem Zorn. Ein tiefes Grollen drang aus seiner Kehle. Das Gefühl, die Beherrschung über seinen Körper und seinen Verstand zu verlieren, peinigte ihn mehr als die vorausgegangen Schmerzen. Kontrolle unterschied den Mensch vom Tier. Kontrolle über die Instinkte, die zum Töten verleiteten. Er wollte nicht zum Tier werden. Icherios kämpfte um seine Seele, während die Schmerzen zurückkehrten und er sich auf den feuchten Steinen hin und her wälzte. Er vergaß alles um sich herum, zog sich in sein Innerstes zurück. Für einen Augenblick glaubte er, den Kampf zu gewinnen. Dann bemerkte er Raban. In seinem unerbittlichen Griff hing ein magerer Mann von etwa sechzig Jahren, der nach Angst roch. Bei Icherios’ Anblick erlahmten dessen Versuche, sich von seinen Fesseln zu befreien. Ein gelber Fleck

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