Der Kraehenturm
Spitzbogenfenstern, vor denen dicke, grüngoldene Vorhänge hingen. Ein Kamin, mehrere mit Büchern beladene Tische und Stühle luden zum gemütlichen Schmökern ein. Die Wände wurden von Regalen mit Enzyklopädien aus allen Epochen der Menschheit gesäumt. Lange Leitern lehnten an ihnen, um den Wissbegierigen den Zugriff auf die Kostbarkeiten zu ermöglichen.
Der alte Vampir saß in einem mit grünem Samt gepolsterten Sessel aus Kirschholz und las in Shakespeares Romeo und Julia. Gelassen blickte er auf. Den dramatischen Auftritt und Zorn seines jungen Freundes schien er nicht wahrzunehmen.
»Wie konntet Ihr mir das antun?«, fuhr Icherios den alten Vampir an. Seine Hände zitterten vor Wut. Bilder tauchten in seinem Kopf auf, in denen er Raban mit aufgeschlitzter Kehle vor sich liegen sah. Er zuckte zusammen. Woher kamen diese Gedanken?
»Ihr wärt sonst gestorben. Was nirgendwo geschrieben steht, ist, dass ein Halbwesen wie Ihr qualvoll vergeht, wenn es in der Andreasnacht keinen Menschen tötet. Gott fordert ein Leben für jedes Jahr, das ein Verfluchter auf Erden wandelt.«
Über Icherios’ Rücken lief ein Schauder. »Gott verlangt doch keine Menschenleben.«
»Er hat das Leben seines eigenen Sohnes genommen.«
»Es wäre dennoch meine Entscheidung gewesen, ob ich leben oder sterben will.«
»Der Mann, den Ihr getötet habt, war nur ein Mörder und Vergewaltiger.« Der alte Vampir zuckte mit den Schultern. »Ausgelöst aus dem Gefängnis für ein paar Münzen und wohlüberlegte Worte. Verschwendet keinen Gedanken an ihn. Man hätte ihn ohnehin hingerichtet.«
Icherios stützte sich auf den niedrigen Tisch vor Rabans Sessel und blickte ihm in die Augen. »Es war trotzdem ein Menschenleben. Ein weiteres.« Noch beherrschte Wut seine Gefühle, aber er fürchtete den Augenblick, wenn die Erkenntnis, dass er einen zweiten Menschen getötet hatte, zu ihm durchdringen würde.
Doch in Rabans Miene lag kein Mitgefühl. Icherios wurde sich bewusst, dass er ihn nach all den Jahren immer noch nicht kannte. Raban war ein Vampir, wie konnte man mit einem Blutsauger über den Wert von Menschenleben diskutieren?
Der Samt seines robenartigen Gewandes raschelte, als sich Raban erhob. Wie immer trug er ein dickes, goldenes Kreuz um den Hals. Icherios fand es erschreckend, dass sich Vampire in so unterschiedlichen Gestalten verbargen. Wie vielen von ihnen war er bereits unwissend begegnet? Wie oft war er kurz davor gestanden, ausgesaugt in einer dunklen Gasse zu enden?
»Folgt mir.« Ohne sich zu vergewissern, dass der junge Gelehrte ihm gehorchte, verließ Raban das Studierzimmer und ging die kunstvoll geschwungene Holztreppe hinauf in den oberen Stock. An den Wänden hingen zahlreiche goldgerahmte Gemälde mit den Porträts von Rabans Vorfahren. Es war Icherios nie zuvor aufgefallen, dass das jüngste aus dem vierzehnten Jahrhundert stammte. Wie alt mochte sein Mentor in Wirklichkeit sein?
Der alte Vampir führte ihn durch einen Gang zu einer schwarz bemalten Tür, um deren Schlüsselloch sich filigrane Zeichnungen von dunkelroten Blüten und Blättern rankten. Leise klimpernd holte er einen Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Das Zimmer war relativ klein, und auch wenn es regelmäßig geputzt wurde, hing der Geruch von Staub, modernden Stoffen und Mäusekot in der Luft. Die Einrichtung stammte aus dem vierzehnten Jahrhundert. Schwere Eichenholzmöbel und Truhen mit Tierreliefs gaben dem Raum eine gemütliche Atmosphäre. In einer Ecke stapelten sich Gemälde, die alle dieselbe Frau darstellten. Sie war mittleren Alters, aber ihre Schönheit war noch nicht verblasst, sondern schien durch die Jahre zu gewinnen. Dunkle Haare, in denen sich einzelne silberne Strähnen abzeichneten, umrahmten ein zartes, herzförmiges Antlitz. Am auffälligsten waren ihre schwarzen Augen, die, selbst in Öl gebannt, Icherios in die Seele zu blicken schienen.
»Alisandra.« Rabans Stimme brach, als er den Namen flüsternd aussprach. Sein Blick glitt liebevoll die Konturen ihres Gesichts entlang. »Sie war die Liebe meines Lebens und zugleich mein größter Fluch.«
Icherios zuckte überrascht zusammen. Sein Mentor war verliebt gewesen? Der Gedanke erschien ihm ebenso absurd und abstoßend wie die Vorstellung, seine Eltern könnten sich im Bett vergnügen. Gleichzeitig schämte er sich für seine Naivität.
»Ich war Erzbischof von Trier, bemüht, die Macht meiner Familie weiter auszubauen. Dann traf ich Alisandra. Undenkbar für
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