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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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was sie roch, es rasch hinunterzuschlingen. Schließlich blieb sie vor einem Haus stehen, an dem ein Holzschild im Wind schwankte, das eine Holzpuppe und der eingebrannte Name Nispeth schmückten.
    »Der Nager steht wohl auf Puppen. Vielleicht möchte er eine kleine Gefährtin aus Holz, mit der er spielen kann.«
    Icherios ignorierte Marthes’ Spötteleien, schritt zu Maleficium und hob ihn auf. Die Ratte starrte weiterhin auf das Gebäude. »Lassen wir es gut sein für heute.«
    Auf dem Rückweg legten sie in Marthes’ Wohnung eine Pause ein, um aus dem Fresspaket von seiner Familie ein saftiges Schwarzbrot mit Butter, Honig und Pflaumenmus zu verschlingen. Marthes zeigte sich zwar über die Anwesenheit von Maleficium alles andere als begeistert, aber der junge Gelehrte war dennoch froh, ihn nicht mehr vor seinem Freund verbergen zu müssen.
    Am Nachmittag gingen sie zur Vorlesung von Professor Crabbé. Icherios grübelte darüber nach, wie er herausfinden konnte, wer die Leiche in der Grabkapelle gewesen war, während Marthes leise vor sich hin schimpfte – er mochte keine Dozenten, die ernsthaftes Interesse von ihren Studenten verlangten. Icherios wartete allerdings vergeblich darauf, dass Crabbé ihn oder die Studenten, die an den Sektionen im Keller teilgenommen hatten, beachtete. Anscheinend wollte er keine weitere Aufmerksamkeit erregen. Ob er Aufzeichnungen über die Leichen und ihre Untersuchungen führte? Immerhin galt sein Interesse angeblich der Wissenschaft. Er musste also irgendwo Dokumente aufbewahren. Vielleicht in dem Büro, das die Universität jedem Dozenten zur Verfügung stellte? Nachdem er seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, begann der Professor mit seinen Ausführungen, für die er das Skelett eines Hundes mitgebracht hatte. Eine gelehrige Stille, die nur vom gelegentlichen Husten eines Studenten durchbrochen wurde, legte sich über den Hörsaal. Während der Professor eine vergleichende Skizze, die den Unterschied zwischen einer Menschenhand und einer Hundepfote darstellen sollte, anfertigte, fasste Icherios einen abenteuerlichen Beschluss: Er würde in das Büro des Professors eindringen, um herauszufinden, woher der schattenlose Leichnam stammte. Er beabsichtigte ohnehin, die Bibliothek zu besuchen. Das Monstrorum Noctis hatte ihm keinen Hinweis auf die Ursache von Schattenlosigkeit oder die Entstehung einer Schattenkreatur gegeben, und er hegte die geringe Hoffnung, in der Universitätsbibliothek Informationen zu finden. Vielleicht entdeckte er ja sogar einen Anhaltspunkt dafür, wie er sich vom Strigoi befreien konnte.
    Zuerst musste er allerdings Marthes loswerden, der sichtlich enttäuscht war, dass er nicht mit ihm in den Neckartänzer­ ging.
    »Du entwickelst dich zu einem richtigen Streber.«
    »Ich bin im Gegensatz zu dir freiwillig hier und möchte Arzt werden«, versuchte der junge Gelehrte ihn zu beschwichtigen. Es war zwar nicht die ganze Wahrheit, aber was sollte er seinem Freund sonst sagen?
    »Schon in Ordnung«, Marthes schlenderte zu den anderen Studenten. »Ich gebe nicht so schnell auf!«, rief er ihm zu, während er sich bei einem großen, blonden Jüngling unterhakte.
    Icherios verbarg sich in einer Nische, bis die Dozenten und Studenten entweder nach Hause gegangen oder in den Hörsälen verschwunden waren. Dann stieg er die breiten Treppen in den ersten Stock hinauf, in der sich die Bibliothek befand. Fröstelnd schlang er die Arme um sich. Im Hörsaal herrschte trotz der fehlenden Kamine eine erträgliche Temperatur durch die zahlreichen warmen Körper. Weiter oben, in den abgelegeneren Bereichen, regierte dagegen eine empfindliche Kälte.
    Vor einer Tür, die sehr mitgenommen aussah und wohl erst durch Feuchtigkeit aufgequollen und dann gefroren war, blieb er stehen. Über ihr hatte jemand lieblos in Schwarz Bibliotheca geschrieben. Zögerlich drückte er sie auf und spähte hinein. Ein alter Mann mit Brille und rundem Bauch saß an einem Tisch und kopierte eine Seite aus einem dünnen, zerlesenen Buch. Erst als Icherios vor ihn trat, blickte er auf.
    »Was willst du, Bursche?«
    »Ich suche ein Buch.«
    »Davon haben wir genug.« Ohne den jungen Gelehrten weiter zu beachten, wandte er sich erneut seiner Arbeit zu.
    Icherios zuckte mit den Achseln und wanderte hoffnungsvoll durch die dicht stehenden Regale, die jedoch kaum zur Hälfte gefüllt waren. Enttäuscht lehnte er sich an eine Wand, von der die Farbe in dicken Stücken abblätterte. Er hatte mit

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