Der Kraehenturm
der Morgendämmerung erwachte, vergewisserte er sich zuerst, dass alle Lampen brannten. Dann ging er in seinen Arbeitsraum hinüber. Auf einem Tisch stand ein mit einem Tuch abgedeckter Käfig, in dem zwei Ratten saßen, die er gefangen hatte. Er musste eines nach dem anderen angehen. Vor den Vorlesungen würde er Blut von den Tieren nehmen und seine Experimente fortsetzen, dann würde er das Monstrorum Noctics auf Hinweise auf das Schattenwesen durchsuchen. Um die Vorgänge im Ordo Occulto musste er sich ein anderes Mal kümmern. Er grübelte, ob er Professor Crabbé auf die merkwürdigen Vorkommnisse in der Kapelle ansprechen sollte. Er fühlte sich wie in einem Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gab.
Schon nach kurzer Zeit merkte er, dass ihn die Versuche mit dem Blut gewöhnlicher Ratten nicht weiterbrachten. Maleficiums Blut reagierte überaus aggressiv und zerfraß die Blutkörperchen seiner Artgenossen in Sekundenschnelle. Icherios untersuchte zudem die Reaktionen auf verschiedene Substanzen, unter anderem Schwefel und Salz, zwei der sieben alchemistischen Elemente, und während die Blutkörperchen der gewöhnlichen Nager schrumpften oder zerplatzten, blieben Maleficiums unbeeindruckt.
Bevor er zur Universität aufbrach, errichtete er einen aufwendigen Aufbau aus Kolben, Kerzen, Glasröhren, Wasserbädern und Säulen, mit dem er versuchen wollte, sein eigenes Blut zu reinigen. Das war eine alte alchemistische Methode aus dem Spanien des 17. Jahrhunderts. Er hoffte damit, eine neue Substanz zu gewinnen, die Essenz dessen, was ihn in einen Strigoi verwandelte. Zufrieden betrachtete er die feinen Tropfen in den Röhren. Bisher verlief zumindest dieses Experiment nach Plan.
Darauf bedacht seine noch immer schmerzenden Wunden, die von seiner Begegnung mit der Mühlenhexe herrührten, nicht wieder aufzureißen, zog er sich an. Sie schmerzten zwar mehr, als sie sollten, dafür heilten sie seit der Andreasnacht aber auch ungewöhnlich schnell. Eine weitere Veränderung, die der Strigoi seinem Körper aufzwang. Seit seiner Verwandlung beherrschten heftige Albträume, in denen er nach Blut und Fleisch gierte, seine Nächte und suchten ihn oft sogar im wachen Zustand heim. Ob sich die Heilung durch den Verzehr von Menschenfleisch noch weiter beschleunigen ließe? So sehr ihn der Gedanke ekelte, vermochte er ihn dennoch nicht völlig aus seinem Kopf zu verbannen. Er erinnerte sich an sein Gespräch mit dem Doctore. Durfte er sich Grenzen auferlegen, wenn es um die Wissenschaft ging?
Während er sich anzog, betrachtete er sich im Spiegel. Von dem jungen Mann mit den schmalen, aber aristokratischen Zügen und dem sanften Lächeln war nicht mehr viel übrig. Seine graugrünen Augen wirkten fahl, die schulterlangen, braunen Haare hingen stumpf herab, und seine ohnehin blasse Haut wies einen ungesunden, grünlichen Schimmer auf. Wer bist du?, fragte er sein Spiegelbild. Ein Strigoi? Er schlug mit der Hand gegen das Spiegelglas. »Ich hasse dich.«
Mit hängenden Schultern ging er in die Küche hinunter, in der ihn Franz mit einem fröhlichen »Guten Morgen!« begrüßte und dann ein frisches Brot aus dem Steinofen holte.
»Hunger?« Die Werratte kaute wie immer auf irgendetwas herum.
»Natürlich!« Icherios versuchte ein Lächeln aufzusetzen, das ihm kläglich misslang.
»Wir sind heute Morgen allein. Auberlin hat Gis weggeschickt.«
»Du magst ihn nicht.«
»Ich schätze Gismara sehr.«
Selbst Icherios war aufgefallen, wie er die Hexe ansah. Er schätzte sie nicht nur. Er war in sie verliebt.
»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«
Franz seufzte. »Was möchtest du essen?«
Icherios antwortete ohne nachzudenken: »Ein Stück saftiges Fleisch, am besten vom Nacken und schön blutig.«
Franz blickte ihn einen Moment verwirrt an. Dann lachte er. »Da hast du mich fast gehabt. Guter Versuch, Grünschnabel.« Er holte ein paar Eier aus dem Vorratsraum. »Also Rührei mit Speck.«
Icherios war froh, dass die Werratte zu beschäftigt damit war, die Eier in die Pfannen zu geben und sie mit Kräutern, Pfeffer und Salz zu würzen, als dass ihm sein blasses Gesicht hätte auffallen können. Er hatte nicht gescherzt. Er spürte das unbändige Verlangen, seine Zähne in ein rohes Stück Fleisch zu schlagen. Was geschah nur mit ihm? Das war doch nicht normal, oder etwa doch? In den wenigen Informationen, die er über Strigoi gefunden hatte, war nichts über das Seelenleben der Infizierten zu lesen gewesen. In
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