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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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gewesen sein. Daneben stand eine Anschrift in der Kurfürstenstraße. Der junge Gelehrte prägte sie sich sorgfältig ein. Dann fiel ihm auf, dass für den heutigen Tag ebenfalls ein Name eingetragen war: Frytz Grenalt. Bekam der Professor auch Leichen für andere Zwecke? Er entsann sich, einen Terminkalender gesehen zu haben. Hastig begann er, ihn zu suchen, wurde aber von den näher kommenden, schweren Schritten eines Mannes unterbrochen. Rasch löschte er das Licht und presste sich an die Wand neben der Tür. Er hielt den Atem an, als die Person auf Höhe der Tür anhielt. Die Sekunden verwandelten sich in kleine Ewigkeiten, in denen sich Icherios’ Magen schmerzhaft zusammenzog.
    Doch Icherios blieb unentdeckt und der Mann ging weiter. Sobald die Schritte verklungen waren, holte der junge Gelehrte tief Luft. Das war knapp. Seine Knie zitterten so sehr, dass er sich setzen musste, während er weitersuchte. Schließlich fand er den Kalender in einer Schublade, blätterte ihn hastig durch und entdeckte eine Eintragung für den heutigen Tag: »GK zwanzigste Stunde«. Das musste ein Kürzel für die Grabkapelle sein! So schnell wie möglich legte Icherios wieder alles an seinen Platz und öffnete die Tür einen Spalt. Niemand war zu sehen. Rasch trat er auf den Flur hinaus, schloss die Tür hinter sich und eilte nach draußen.
    Es war ein langer Weg zur Grabkapelle, und er bereute einmal mehr, Mantikor nicht mitgebracht zu haben. Seine Füße schmerzten, als er endlich in der Gasse stand und sich an das Gebäude heranschlich. Mit gemischten Gefühlen drückte er sich durch die Dunkelheit. Die Erinnerungen an seine Begegnung mit der Schattenkreatur waren zu lebendig, sodass er unruhig auf jede Bewegung lauerte.
    Er war sich nicht sicher, ob er wagen würde, alleine in die Halle zu gehen. Nicht nachdem ihn das letzte Mal dieses Wesen verfolgt hatte. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als er die alte Kapelle betrachtete, um die sich die Dunkelheit zu verdichten schien. Schneefall setzte ein, und Icherios fror noch mehr, als die Schneeflocken auf seinem Mantel schmolzen und die Feuchtigkeit in seine Knochen eindrang. Er fühlte sich steif und wollte bereits aufgeben, als sich die Eingangstür einen Spalt öffnete. Einen Augenblick später trat der Professor nach draußen, blickte sich vorsichtig um und schloss die Tür. Der junge Gelehrte drückte sich tief in die Dunkelheit zwischen zwei Häusern, als Crabbé die Straße hinunterging. An der Wegkreuzung hob er die Hand, woraufhin sich eine Kutsche aus der Nacht schälte, in die er einstieg und in Richtung Stadtzentrum verschwand.
    Icherios wartete einige Minuten, während er mit sich selbst haderte. Sollte er es tatsächlich wagen, dort hinunterzugehen? Seine Neugier gewann Oberhand. Mit klopfendem Herzen und kaltem Schweiß auf der Stirn eilte er zum Eingang und trat lautlos durch das Portal in die Dunkelheit. Iche­rios zögerte, dann nahm er eine Kerze und zündete sie an. Schnee rieselte durch das Loch im Dach und bedeckte Boden und Bänke mit einem dünnen Teppich. Leise ging er die Treppe hinunter, vorbei an den Särgen der sechs jungen Frauen zur Geheimkammer. Er presste ein Ohr an die Wand und lauschte mit angehaltenem Atem, konnte aber nichts hören. Nach einem Augenblick des Zögerns betätigte er die geheime Verriegelung, und die Tür schwang auf. Es war vollkommen finster in der Kammer, und der Gestank von Blut und Gedärmen schlug ihm entgegen. Kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn, als er Schritt für Schritt in den Raum hineinging und die Kerzen und Lampen an der Wand entzündete.
    Tatsächlich lag eine weitere Leiche auf einem der Obduktionstische. Es war ein Mann von etwa 60 Jahren mit starkem Übergewicht, dessen Brustkorb und Magen zwar in groben Stichen zugenäht worden waren, aber ebenso wie die geschlossenen Augen eigentümlich eingesunken wirkten. Auf einem Tisch standen Glasgefäße in den verschiedensten Größen. Als Icherios näher trat, sah er, dass in ihnen die Innereien, Augen und das Gehirn des Mannes schwammen. Zum Teil waren sie aufgeschnitten worden, um ihre innere Struktur zu präsentieren. Der junge Gelehrte erfasste sofort, was der Professor hier unten trieb: Er fertigte neue Präparate für seine Sammlung an!
    Icherios wagte zuerst nicht, an den Leichnam heranzutreten, doch dann fasste er Mut und stellte seine Kerze ne­ben die Leiche. Mit zusammengepressten Lippen, bemüht, nicht auf die Nähte am Leib des Toten zu

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