Der Kraehenturm
einer umfangreichen Sammlung kostbarer Bücher gerechnet und nicht mit diesem armseligen Haufen gammliger Papiere. Er bezweifelte, dass er an diesem Ort etwas Brauchbares entdecken würde, dennoch setzte er seine Suche fort und fand seine Befürchtungen bestätigt. Außer ein paar alten Medizinbüchern, die selbst in der jetzigen Zeit der Aufklärung noch wertvoll waren, stieß er nur auf überholte Theorien und geistliche Abhandlungen. Damit blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Nachforschungen in der Bibliothek des Magistratum fortzusetzen. Es behagte ihm nicht, sie zu benutzen, da er hoffte, seine Untersuchungen geheim halten zu können, aber vielleicht entdeckte er einen Hinweis in Professor Crabbés Büro.
Dessen Arbeitszimmer lag in einem alten Universitätsgebäude, welches nur selten benutzt wurde und sich etwas außerhalb des Zentrums befand. Icherios konnte sich an das einzige Mal erinnern, als der Professor einen Assistenten mit zur Vorlesung gebracht und dieser über die weite Entfernung zur Universität geflucht hatte.
Er entschied sich, in einem Gasthaus zu warten und dort ein Glas heißen, gewürzten Wein zu trinken, bis die Nacht hereingebrochen war und er das Gebäude unbemerkt von außen untersuchen konnte.
Als es so weit war, spähte er vorsichtig in jedes Fenster des Hauses, in der Hoffnung so herauszufinden, welches Crabbés Büro war. Wie so oft hatte er eine entscheidende Kleinigkeit vergessen: Er wusste nicht, in welchem Stockwerk es lag. Doch er hatte Glück – in einem Raum an der Rückseite brannte noch Licht, und er konnte den Professor dabei beobachten, wie er über einen Stapel Akten gebeugt an einem mit Büchern überladenen Tisch saß. Zahlreiche Öllampen beleuchteten ein Sammelsurium aus menschlichen und tierischen Skeletten, in Alkohol eingelegten Organen und Embryonen und unzähligen Skizzen des menschlichen Körpers.
Icherios kauerte sich unter dem Fenstersims zusammen, vergrub die Hände in seinem Mantel und wartete, bis das Licht in Crabbés Büro erloschen war. Dann schlich er zum Eingang und beobachtete, wie der Professor von einer großen, schwarzen Kutsche abgeholt wurde. Nachdem er lange genug ausgeharrt hatte, um sicher zu sein, dass er nicht zurückkommen würde, öffnete er die Tür des Hauptgebäudes und eilte festen Schritts den niedrigen Gang entlang. Sollte ihn jemand anhalten, plante er, sich als Assistent eines Dozenten auszugeben. Doch er hatte Glück und begegnete niemandem. Icherios stellte ernüchtert fest, dass die Tür unverschlossen war. Er bezweifelte, dass Crabbé so unvorsichtig sein würde, wichtige Unterlagen ungeschützt zurückzulassen. Er blickte sich noch einmal um, dann ging er in das Zimmer hinein und zündete eine Lampe an. Erst jetzt erkannte der junge Gelehrte, wie voll der Raum wirklich war, selbst den Boden bedeckten Bücher und Kisten, die nur eine schmale Gasse zum Schreibtisch ließen. Icherios fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen. Niemals würde er alles durchsuchen können. Außerdem könnte jede Veränderung in den Stapeln Crabbé auffallen und ihm verraten, dass ein Eindringling sein Unwesen getrieben hatte.
Icherios beschloss, sich auf den Arbeitsplatz zu beschränken. Wenn er dort keinen Hinweis fand, musste er unverrichteter Dinge wieder abziehen. Er begann, die Papiere durchzusehen. Unzählige Aufsätze von Studenten, Aufstellungen über Zahlungen an seine Mitarbeiter, Anschaffungslisten, aber nichts, was dem jungen Gelehrten weiterhalf. Mit jeder Minute stieg Icherios’ Unruhe. Er wagte nicht, sich auszumalen, was mit ihm geschehen würde, wenn man ihn hier erwischte. Sollte Crabbé tatsächlich nur ein harmloser Wissenschaftler sein, würde er vielleicht mit einem Ausschluss vom Studium und einigen Tagen im Karzer davonkommen, doch was würde er ihm antun, falls er in dunkle Machenschaften verstrickt war? Icherios wollte bereits aufgeben und den letzten Stapel zurücklegen, als sein Blick auf eine versteckte Schublade auf der Innenseite des Schreibtischs fiel. Vorsichtig öffnete er sie und fand gleich mehrere Listen. Auf einer befanden sich Namen, hinter denen jeweils ein Datum eingetragen war. Drei Namen gehörten zum vergangenen Freitag, dem Tag, an dem die Sektionen in der Grabkapelle stattgefunden hatten. In einer weiteren Tabelle standen die dazugehörigen Adressen und das Alter der Personen.
Icherios benötigte nur wenige Minuten, um herauszufinden, wer der schattenlose Tote war: Es musste Bruno Gluwark
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