Der Kraehenturm
starren, ergriff er einen Arm und hob ihn hoch. Vor Schreck prallte er zurück. Der Mann hatte ebenfalls keinen Schatten! Auf was war er bloß gestoßen? Plötzlich hatte er erneut das Gefühl, beobachtet zu werden. Panik erfasste ihn. Hastig blies er Kerzen und Lampen aus, stieß dabei beinahe ein Gefäß mit der Präparation einer Herzkammer um und stürmte nach draußen. Er konnte förmlich spüren, wie sich die Schatten in den Ecken ballten. Er atmete kurz auf, als er die Tür hinter sich ins Schloss warf, dann rannte er auf die Gasse hinaus und hielt nicht inne, bis er mehrere Straßen weiter im Lichtkegel einer Straßenlaterne schwer atmend auf die Knie sank. Er wollte diese Nacht nicht alleine verbringen. Bevor er wusste, was er tat, eilte er zu Carissimas Haus. Sie empfing ihn mit offenen Armen und, wie so oft, erahnte sie genau, was er brauchte, und ließ ihn für einige Augenblicke die Schrecken der letzten Nächte vergessen.
21
In dunklen Gassen
G
7. Novembris, Heidelberg
D er nächste Morgen begann in gleißendem Weiß. In den vergangenen Stunden hatte es geschneit, und das blasse Sonnenlicht reflektierte von den kleinen Eiskristallen und blendete Icherios’ Augen, als er aus Carissimas Anwesen trat. Nachdem sie sich geliebt hatten, war sie bei ihm geblieben, bis er eingeschlafen war. Wie alle Vampire, bevorzugte sie die Nachtstunden und war zu unternehmungslustig, um die Nächte schlafend zu verbringen. Der junge Gelehrte war sich nicht sicher, was er von ihrer eigentümlichen Beziehung halten sollte. Er mochte und fürchtete sie zugleich, aber er glaubte nicht, dass er sie liebte. Und sie? Laut ihrem Bruder hatte sie oft Vergnügen an menschlichen Liebhabern, da sie leidenschaftlicher seien als die kalten Vampire. Doch bot sie auch jedem ihrer Bettgefährten die Unsterblichkeit an? Icherios massierte seine Schläfen; sein Kopf schmerzte von der blendenden Helligkeit und den Fragen, die in ihm tobten.
Er musste sich förmlich zwingen, zur Domus Wilhelmiana zu gehen. Er hätte es zwar nie für möglich gehalten, aber er begann langsam daran zu zweifeln, dass das Studium das Richtige für ihn war. Er wollte viel lieber seinen eigenen Untersuchungen nachgehen, mehr über die Schattenkreatur und die Natur des Strigoi herausfinden, anstatt eintönigen Vorträgen zuzuhören. Frustriert trat er hinter einem Stein her. Er wollte Arzt werden, daran zweifelte er nicht, aber gab es nicht noch andere Wege, dieses Ziel zu erreichen? Wie ein Guss kalten Wassers rann ihm die Angst den Rücken hinunter, als er sich Freybergs Reaktion ausmalte, sollte er tatsächlich sein Studium abbrechen. Ihm blieb keine andere Wahl, als das Medizinstudium fortzusetzen, vor allem, da es ihm die Möglichkeit bot, mehr über Vallentins Tod zu erfahren. Schuldgefühle flammten in ihm auf. Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihn zu sehr abgelenkt.
Nach dem Tag an der Uni kehrte er zum Magistratum zurück, wo ihn dunkle Rauchschwaden empfingen, die aus der Küche zu kommen schienen. Franz eilte fluchend auf und ab.
»Verfluchtes Rezept! Anstatt anständig zu flambieren, jagt es einem den Herd hoch!«
Icherios lachte, als er die Fenster aufzog und in das verrußte Gesicht der Werratte sah.
»Das ist nicht witzig!«, Franz blickte ihn böse an, dann grinste er. »Hier«, er hielt ihm einen verkohlten Klumpen hin. »Apfeltaschen mit glasiertem Apfelschnaps. Musst nur das Schwarze abkratzen.«
Icherios erinnerte es eher an ein Stück Steinkohle als an etwas Essbares, aber er wollte nicht unhöflich sein. Also nahm er das schwarze Gebilde und fing an, die Kruste abzubröseln. Darunter kamen tatsächlich heller Teig und Apfelstücke zum Vorschein. Und es roch auch noch gut! Zufrieden sah Franz zu, wie der junge Gelehrte sich ein Stück in den Mund schob.
Während Icherios kaute, überlegte er, ob er es wagen durfte, sich Franz anzuvertrauen.
»Wenn ich in Erfahrung bringen will, wo man eine Leiche gefunden hat, wen kann ich da fragen?«
»Steckst du in Schwierigkeiten?« Die Werratte schloss die Fenster. Der Rauch war abgezogen.
»Nein, ich muss nur etwas herausfinden.«
»Und offensichtlich nicht verraten, was.« Franz wirkte gekränkt.
Der junge Gelehrte senkte schuldbewusst den Kopf. »Tut mir leid, ich möchte erst sichergehen.«
Franz musterte ihn prüfend. »Na gut. Es soll niemand davon erfahren?«
Icherios nickte.
»Hast du Geld?«
»Ja.«
»Geh heute Abend in den Mäuseschwanz und bring fünf Gulden mit. Du
Weitere Kostenlose Bücher