Der Kraehenturm
der Wissenschaft interessierte das wohl niemanden.
Franz stellte Butter, Früchte und Tomaten auf den Tisch. »Du siehst aus, als könntest du eine kleine Freude gebrauchen.« Er verschwand in der Speisekammer und kam mit einem abgedeckten Korb zurück. »Frische Rosinenbrötchen.«
Der Duft ließ Icherios das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Das riecht wunderbar.«
»Greif nur zu.«
Icherios nickte, während er sich ein halbes Brötchen auf einmal in den Mund schob. Er zögerte, seine nächste Frage zu stellen. »Du bist also eine Werratte?«
Franz stocherte in seinem Essen. »Ja.«
»Kannst du dich denn komplett in eine Ratte verwandeln?« Die Werwölfe, die Icherios kannte, waren dazu in der Lage, sich sowohl in ein Mischwesen als auch in echte Wölfe zu verwandeln.«
»Nein, der Größenunterschied ist zu groß. Als Entschädigung verfüge ich als Mensch über einen sehr guten Geruchssinn und einen robusten Magen.« Franz grinste.
»Was hat es mit Gismara auf sich? Sie ist so …« Der junge Gelehrte suchte nach den passenden Worten.
»Launisch, unberechenbar, kalt und doch temperamentvoll?«, fuhr Franz fort. »Sie hat ein schweres Leben hinter sich. Sag ihr nicht, dass ich dir davon erzählt habe, aber du solltest wissen, mit wem du es zu tun hast.«
Icherios nickte.
»Als junges Mädchen wurde sie zwangsverheiratet. Ihre Mutter war früh gestorben, und ihr Vater wollte nicht akzeptieren, dass sie wie ihre Mutter eine geborene Hexe ist, die zudem den Kuss der Sinthgut erhielt und über Furcht einflößende Fähigkeiten verfügt.«
»Wer ist Sinthgut?«
»Eine Göttin der nordischen Mythologie. Die Nachtläuferin gilt als Mutter und Beschützerin der Hexen.« Franz seufzte. »Jedenfalls hasste ihr Mann sie für das, was sie war, und misshandelte sie. Als sie schwanger wurde, verprügelte er sie so unerbittlich, dass sie das Kind verlor. Daraufhin brachte sie ihn um. Ich erspare dir die Einzelheiten. Der Zorn einer Incantatrix ist grausam.«
Icherios dachte an die Maleficia. Es musste schwer für Gismara gewesen sein, sie zu vernichten, ähnelten sich ihre Schicksale doch so sehr.
»Zur Strafe sollte sie hingerichtet werden, aber Auberlin hörte von ihrem Los und rettete sie. Zum Dank schwor sie ihm ewige Treue. Dann bildete er sie aus und wurde so wie ein Vater für sie. Das änderte sich allerdings schlagartig, als er ihr einen Auftrag erteilte, den sie ihm nicht verzeihen konnte.«
Icherios blieb der Bissen vor Aufregung beinahe im Hals stecken. Rasch spülte er mit einem Schluck Milch nach.
»In Heidelberg hatte sich ein Hexenzirkel gebildet. Diesmal waren es nicht irgendwelche gelangweilten Edelfrauen, sondern eine Gruppe wahrer Hexen. Sie richteten zwar kein Unheil an, aber Auberlin wollte sie im Auge behalten. Also trug er Gismara auf, sich bei ihnen sozusagen als Spion einzuschleichen und ihm zu berichten. Nicht nur dass er sie dazu wegschicken musste, um ihre Identität zu verschleiern, nein, letztlich verlangte er von ihr, ihre eigene Art zu verraten. Das war für Gismara ein schwerer Schlag. Zudem entstand zwischen Hazecha, der Hohepriesterin des Zirkels, und ihr eine tiefe Freundschaft, die Gismara in ständigem Zwiespalt leben lässt. Seither fürchtet sie, Hazechas Zuneigung zu verlieren. Zugleich muss sie Angst um ihr Leben haben, da Hazecha mächtig genug ist, Gismara innerhalb eines Augenblicks zu vernichten.«
Icherios schluckte. So biestig die Hexe auch war, verspürte er dennoch Bewunderung für sie und gleichzeitig Mitleid mit ihr. Er glaubte nicht, dass er selbst einer solchen Belastung standhalten könnte.
Nach dem Frühstück ging er zur Domus Wilhelmiana, um die Vorlesungen zu besuchen. Pater Frisslings monotone Ausführungen waren nervtötend wie immer, und das Benehmen seiner sogenannten Freunde war seit der Einladung durch Professor Crabbé deutlich distanzierter. Nur Marthes lächelte ihn unbekümmert an.
»Wo warst du denn? Ich dachte, der Professor hätte dich in seine Präparate-Sammlung aufgenommen, als du nicht im Neckartänzer aufgetaucht bist.«
Icherios zuckte schuldbewusst mit den Achseln. »Tut mir leid. Ich hatte zu tun.«
Marthes neigte sich zu ihm hin.
»Lässt Crabbé dich nicht mehr aus den Fängen?«
Es wäre so einfach, ja zu sagen, aber wollte er den einzigen Menschen, dem er vertraute, belügen?
»Nein, es war etwas anderes. Ich arbeite nebenher.«
Marthes riss die Augen auf. »Deshalb kannst du dir es also leisten, allein zu
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