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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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wohnen?«
    »Ja, außerdem verlangt mein Arbeitgeber, dass ich jederzeit für ihn da bin.«
    »Was machst du denn?«
    Icherios senkte verschwörerisch die Stimme. »Das darf ich nicht sagen, und wenn du jemandem davon erzählst, muss ich dich umbringen.«
    Marthes atmete vor Schreck tief ein.
    Icherios musste lachen, da entspannte sich der junge Mann. »Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
    »Tut mir leid.«
    In dem Moment betrat ein Jesuit mitsamt seinen Assistenten den Raum, und das Getuschel verstummte. Icherios zählte die Minuten, bis es endlich vorbei war und eine sterbenslangweilige Stunde Therapie und Materia medica begann. Nachdem sie auch diese überstanden hatten, verkündeten die Glocken den Beginn der Mittagspause.
    »Kommst du mit zu mir? Ich habe ein neues Fresspaket von meinen Eltern bekommen, das auf Vernichtung wartet. Es ist sogar Honiggebäck dabei.«
    Icherios fühlte sich hin- und hergerissen. Er wollte unbedingt in die Straße, die er auf dem Weg zur Grabkapelle aus dem Tagebuch wiedererkannt hatte, doch zugleich quälten ihn Schuldgefühle bei dem Gedanken, Marthes erneut zu versetzen.
    »Ich muss noch etwas erledigen, aber du kannst mich begleiten.«
    Marthes strahlte. »Was machen wir? Rauben wir einen arroganten Adligen aus?« Er brach in Gelächter aus.
    Icherios verdrehte die Augen. »Komm einfach mit.«
    »Gib mir eine Minute, ich hole schnell ein paar Äpfel und noch ein paar Sachen, ansonsten falle ich heute Nachmittag um vor Hunger.«
    Seufzend willigte der junge Gelehrte ein. Sein Magen knurrte ebenfalls, auch wenn es ihn noch immer nach ro­hem Fleisch gelüstete und nicht nach Honiggebäck. Er bereute, Mantikor nicht mit zur Vorlesung gebracht zu haben. Es erstaunte ihn, aber er mochte das Pferd, und der gewaltige ­Wallach hätte ihn und Marthes problemlos tragen können.
    Sie aßen im Gehen, wodurch die meiste Zeit Schweigen herrschte. Zudem musste sich Icherios auf den Weg konzentrieren, aber zu seiner Überraschung fand er ohne Schwierigkeiten zurück in die Mansardengasse. Bei Tageslicht glich sie noch viel stärker Vallentins Zeichnung als bei Nacht.
    »Was willst du denn hier?«
    Icherios zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es selbst nicht. Lass uns einfach die Straße entlanggehen.«
    »Hier wohnt nur ein alter Puppenmacher, garstiger Kerl, doch meine kleine Schwester liebt seine Puppen.«
    Sie gingen die Gasse mehrfach auf und ab, ohne etwas Auffälliges zu finden. Die von unzähligen Jahrzehnten gezeichneten Häuser aus Sandstein, deren fest verschlossene Läden kein Zeichen von Leben nach außen dringen ließen, warfen lange Schatten auf den Boden aus groben Pflastersteinen. Wie die unregelmäßigen Zähne eines alten Mannes standen sie hervor. Der Geruch von brennendem Holz und Dung wehte in dünnen Schwaden an ihnen vorbei, ver­mischte sich mit dem Gestank von Moder, Staub und Verwesung. Eine eisige Böe schoss durch die Gasse hindurch. Icherios vergrub seine Finger noch tiefer in seinem Mantel. Dabei wachte Maleficium auf und quietschte leise.
    »Hast du etwas gesagt?« Marthes drehte sich um.
    »Nein, das muss der Wind gewesen sein.«
    »Ich weiß doch, dass ich etwas gehört habe. Du quiekst.«
    Icherios seufzte. Er wusste, dass sein Freund nicht lockerlassen würde. »Ich nicht, aber Maleficium.« Er holte den Nager aus seinem Mantel. Das Tier protestierte, als es aus der kuscheligen Manteltasche in die kalte Luft gezerrt wurde.
    »Das ist ja eine Ratte.« Marthes verzog angewidert das Gesicht. »Die Augen sehen merkwürdig aus. Ist es krank?«
    »Er ist eine besondere Rasse und mein Haustier.«
    »Wenn du das sagst. Vielleicht findet dieses Vieh, was du suchst.«
    Das war keine schlechte Idee. Icherios setzte seinen kleinen Gefährten auf den Boden. Der Nager blickte ihn fragend an. »Such.«
    Der junge Gelehrte hatte Maleficium zahlreiche Tricks beigebracht. Bereits vor seiner Wandlung war er gelehrig gewesen und begriff fast ebenso schnell wie ein Hund, auch wenn er deutlich eigensinniger war. Durch den Trank hatte sich seine Intelligenz nur noch mehr weiterentwickelt. Doch dieses Mal blieb der Nager störrisch sitzen.
    »Sehr beeindruckend«, spöttelte Marthes.
    Icherios glaubte, so etwas wie Zorn in den Augen der Ratte aufblitzen zu sehen. Dann setzte sie sich in Bewegung, rannte in holperigen Sprüngen zu einer Hausecke und senkte die Nase auf den Boden. Ab und an hielt sie inne, um ein Stück Abfall zu inspizieren, und, wenn ihr gefiel,

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