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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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beobachtete mit einer Mischung aus Faszination und Grauen, wie Carissima sich ins eigene Fleisch biss. Dunkelrotes Blut quoll aus dem tiefen Riss, als sie ihm auffordernd den Arm hinhielt. Er zögerte, dann packte er ihn, hielt das Handgelenk über seinen Mund und fing einige Tropfen auf. Es schmeckte salzig, und während sein Kopf ihm Ekel signalisierte, reagierte sein Körper mit Erregung. Seine Lippen legten sich auf ihre Haut. Er begann zu saugen, hörte ihr wollüstiges Keuchen. Nach kurzer Zeit versuchte sie, sich ihm zu entziehen. Sanft drückte sie ihn zurück in die Federn. Icherios begehrte auf, ihr prickelnder Lebenssaft, in dem er einen Hauch von Mondscheinblumen und Violen erahnte, versetzte ihn in Ekstase. Plötzlich wurde ihm bewusst, was er tat, und er stieß die Vampirin von sich. Angeekelt wandte er sich ab. Die Macht des Strigoi erschreckte ihn. Oder hatte diese blutdürstende Seite schon immer in ihm gelauert?
    Carissima riss ein Stück von der Decke ab und band die Wunde ab. Anschließend ergriff sie seine Hand und legte sich neben ihn. »Schließ die Augen, und versuche, dich zu entspannen. Ich werde dich führen.«
    Icherios glitt in eine Art Traum, doch er war anders als gewöhnliche Träume. Er wusste, dass es nicht die Realität war, die er sah und fühlte, sondern dass er nur der Beobachter von etwas bereits Erlebtem war. Bilder zogen an ihm vorbei, das Antlitz seiner Mutter, seine erste Schulstunde, sein erster Kuss. Auf einmal wurde er Carissimas körperloser Präsenz gewahr. Aus dem Dunkeln schälten sich die Umrisse einer Gasse, zuerst nur in Grautönen, doch dann gewannen sie an Intensität und Farbe. In dieser Gasse hatte er Vallentin das letzte Mal lebend gesehen. Morsche Kisten, die am Straßenrand lagerten, stiegen aus dem Nebel der Erinnerung empor. Er sah sich Arm in Arm mit Vallentin über die im Mondlicht glänzende Straße schlendern. Er spürte seine Gegenwart, hörte sein Lachen. Plötzlich sprang etwas vom Dach herunter, packte Vallentin und schleuderte ihn gegen eine Hauswand, sodass er mit einem dumpfen Stöhnen hin­untersank. Eine Dachschindel löste sich durch die Erschütterung des Aufpralls und zersplitterte krachend auf dem Boden. Die Kreatur richtete sich auf. Erst jetzt erfasste­ Icherios ihre abartige Hässlichkeit. Sie sah aus wie eine aus Holz geschnitzte Puppe mit langen, steifen Gliedern und einem kugelrunden, haarlosen Kopf und Augen, die schwarzen Höhlen glichen. Ein weißer Umhang umwehte den tonnenförmigen Leib mit jeder ruckartigen Bewegung, und als sich das Wesen vor dem jungen Gelehrten aufrichtete, über­ragte es ihn um eine Handbreite. Nachdem das Ding prüfend zu Vallentin geblickt hatte, packte es ihn am Kinn, hob ihn hoch und presste ihn so heftig gegen die Wand, dass er nicht mehr zu atmen vermochte. Die Kreatur legte den Kopf schief und begutachtete ihn. Icherios rang röchelnd nach Luft, seine Brust schmerzte, und die Umgebung begann, vor seinen Augen zu verschwimmen. Jäh ließ der Druck nach, sodass er zu Boden sackte. Wimmernd stützte er sich auf seinen Händen ab und versuchte wegzukriechen, aber das Wesen schlang ein hauchdünnes Seil um seine Hand- und Fußgelenke. Voller Grauen beobachtete er, wie er langsam in die Höhe gehoben wurde und in der Luft schwebte. Die Schnüre schnitten tief in Icherios’ Fleisch, als ein Ruck durch sie ging und er einer Marionette gleich auf die Beine gezerrt wurde. Trotz ihrer dünnen Geschmeidigkeit waren sie so fest und scharf wie Draht. Mit aller Kraft wehrte sich der junge Gelehrte gegen den Zug, dennoch wurde er wie an den Fäden eines unsichtbaren Puppenspielers zu einem Schritt gezwungen. Blut tropfte auf den Boden. Auf die nächste Bewegung war er besser vorbereitet. Sobald der Ruck durch sein Bein lief, warf er sich dagegen und gewann für einen Augenblick die Kontrolle über seine Glieder. Doch sein Widerstand blieb von der Puppe nicht unbemerkt. Sie stach mit einer überdimensionierten Nähnadel in das Fleisch seiner Armbeuge und Kniekehle, zog weitere Seile hindurch, die sich ebenfalls in die Luft erhoben und ihm jede Möglichkeit zur Gegenwehr raubten. Icherios biss sich auf die Innenseite­ seiner Wange, bis sie blutete, in der Hoffnung, aus diesem Albtraum erwachen zu können. Die groteske Gestalt an seiner Seite folgte dem Rhythmus seiner Schritte, als ob sie seine Bewegungen nachahmen würde. Unsägliche Schmerzen durchzuckten seinen Körper. Plötzlich hörte er einen Schrei.

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