Der Kraehenturm
Vallentin! Icherios drehte den Kopf und sah seinen Freund, wie er benommen sein blondes Haar aus den Augen strich, während er laut um Hilfe rief. Dann rappelte er sich auf, rannte auf den jungen Gelehrten zu und stieß die Kreatur zur Seite. Mit dem Messer, das er von seinem Vater zum zehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, versuchte er die Seile an Icherios’ Körper zu durchtrennen, doch sie gaben nur widerwillig nach, sodass Vallentin nicht bemerkte, wie die Puppe sich hinter ihm lautlos wieder aufrichtete. Der Kopf des Wesens hing schief auf seiner Schulter und wackelte von einer Seite auf die andere, als sie zu einem gewaltigen Sprung ansetzte. Icherios rief seinem Freund eine Warnung zu, aber es war zu spät. Ein heftiger Hieb in die Nieren zwang Vallentin in die Knie, doch zuvor gelang es ihm, den rechten Arm des jungen Gelehrten zu befreien. Das Puppenmonster stieß Vallentin zu Boden und setzte dazu an, ihm den Kopf mit einem Tritt zu zerschmettern. Icherios nahm all seine Kraft zusammen, holte Schwung, warf sich gegen die Kreatur, packte sie mit dem freien Arm und riss sie zu Boden. Im Fallen verhedderte sich das Wesen in den eigenen Seilen und prallte hart auf das Pflaster. Vallentin versuchte sich aufzurichten, während das Puppenmonster sich nach und nach befreite, aber sein Körper wollte ihm nicht gehorchen.
»Das Messer.«
Mit zitternden Händen hob Vallentin die Klinge auf und hielt sie Icherios hin. Dieser ergriff sie und begann, heftig an den Schnüren, die ihn fesselten, zu sägen. Aber der grausame Puppenspieler gab nicht auf. Mit einem schmatzenden Geräusch riss Icherios’ Fleisch, als sein Bein hochgezerrt wurde und er sich dagegenstemmte. Ein Schluchzen drang über seine Lippen, Schmerzen rasten durch seinen Leib, doch er gab nicht auf. Endlich gelang es ihm, ein weiteres Seil zu durchtrennen, allerdings befreite sich im selben Moment die Puppe von ihren Fesseln. Ein Laut des Entsetzens entrang sich Icherios’ Kehle und warnte seinen Freund. Verzweifelt warf dieser sich auf die Kreatur und rollte sich zur Seite, sodass das Wesen auf ihn stürzte. Während Vallentin mit dem Monster rang, zerschnitt der junge Gelehrte die restlichen Seile und versuchte seinem Freund zu helfen. Doch die Puppe zeigte im Gegensatz zu ihnen kein Anzeichen von Erschöpfung und konnte sie ohne große Anstrengung immer wieder abschütteln.
Aus einiger Entfernung schallten Stimmen durch die Nacht, und eilige Schritte waren in den Straßen zu hören. Die Stadtwachen mussten alarmiert worden sein! Die Puppe schien nichts von der nahenden Hilfe zu ahnen. Langsam richtete sie sich auf, betrachtete aus den schwarzen Kratern heraus ihre Opfer, um sich dann unvermittelt auf Icherios zu stürzen, der unter dem Aufprall in die Knie ging. Vallentin, kreidebleich und schweißbedeckt, torkelte von hinten auf sie zu und umschlang die Bestie. Mit einer beiläufigen Bewegung schlug diese ihm hart ins Gesicht. Ein Knacken erklang, als Vallentins Schädel brach und er zusammensackte. Für Icherios zog sich die Zeit wie ein Gummiband in die Länge. Er blickte in die Augen seines Freundes und konnte nicht fassen, was er sah. Er bekam kaum mit, wie die Lichter der Stadtwache am anderen Ende der Gasse auftauchten und ihn die Puppe aus dunklen Augenhöhlen anstarrte, bevor sie ihn niederschlug und die Schwärze über ihn kam.
Icherios fand nur mühsam zurück in die Realität. Das Bett, das er unter sich fühlte, wollte nicht zu dem nassen Pflaster aus seiner Erinnerung passen. Er würgte, als er erneut das Knacken von Vallentins Schädel hörte. Langsam öffnete er seine verklebten Augen und blickte in Carissimas besorgtes Antlitz.
»Was war das?«, krächzte er. Die Erleichterung darüber, dass er seinen Freund nicht getötet hatte, wollte sich nicht einstellen. Die Nachwirkungen des Erlebten ließen ihn erzittern, und mit jedem Atemzug spürte er erneut die Trauer. Er würde den Anblick von Vallentins Augen nie vergessen.
»Ich weiß nicht.« In Carissimas Stimme schwang aufrichtiges Bedauern mit.
»Das kann nicht die Realität gewesen sein. Ein solches Geschöpf kann nicht existieren.«
»Was du gesehen hast, ist keine Täuschung. Es war die Wahrheit, wie du sie erlebt hast.«
»Das ist doch nichts weiter als Hokuspokus!«, begehrte Icherios auf. Er wollte nicht nach solch einem Wesen suchen müssen, fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen. Einen Menschen könnte er vor Gericht zerren, aber ein Monster?
Carissima sah
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