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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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Mal wieder.«
    Er setzte gerade dazu an, die Tür zu schließen, als eine hohe Männerstimme aus dem Hintergrund erklang.
    »Wer ist denn da?«
    »Nur ein Tagelöhner, Herr«.
    »Lass ihn ein.«
    »Aber Herr, Ihr solltet Euch nicht von solch niedrigem Gesinde behelligen lassen.«
    »Ich sagte, lass ihn ein!« Die Stimme des Mannes klang scharf und schien daran gewöhnt, Befehle zu erteilen.
    »Mit wem ich meine Zeit verbringe, ist nicht deine Angelegenheit.«
    Widerstrebend ließ der Diener Icherios hinein. Als dieser die sauberen, weißen Fliesen sah, die mit der zartgrünen Tapete harmonierten, wünschte sich der junge Gelehrte seine Stiefel ausziehen zu können, um nicht alles zu beschmutzen. Am Fuße einer breiten Steintreppe wartete ein Mann, dessen Gesicht von den ersten Falten gezeichnet war und auf dessen Kopf eine viel zu große Perücke saß. Er musterte ihn aus wässrigen Augen, bevor er Icherios mit einem Wink aufforderte, ihm zu folgen. Der junge Gelehrte zuckte zusammen, als er das platschende Geräusch bemerkte, das seine Schritte machten, und als er die braunen Flecken auf den Fliesen sah, die von ihm stammten. Der Mann führte ihn in einen edlen Salon, an dessen Wänden die in Öl festgehaltenen Porträts seiner Vorfahren hingen. Zumindest schloss Icherios das aus der Tatsache, dass sie dieselbe spitze Nase wie sein Gegen­über besaßen. Und noch eine Gemeinsamkeit war zu erkennen. Bei genauerem Hinsehen entdeckte er, dass sie alle einen rubinverzierten Dolch trugen. Ein Erbstück?
    »Was kann ich für Ihn tun?« Der Mann musterte ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Mitleid, die bei reichen Menschen so oft zu sehen war, wenn sie auf vom Schicksal weniger Begünstigte trafen.
    »Ich suche Arbeit.« Icherios verbeugte sich unbeholfen – dazu musste er sich nichtmal anstrengen. »Herr«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
    »Da kommt Er zu spät.«
    Dem jungen Gelehrten fiel es schwer, nicht nachzufragen, doch er durfte seine Tarnung nicht mit auffälligen Fragen riskieren.
    »Aber Er kennt sicherlich einige Etablissements, in denen man aufgeschlossenen jungen Damen begegnen kann?«
    »Häh?«, stellte sich Icherios dumm.
    »Huren, ich suche ein Freudenhaus«, fuhr ihn der Mann an.
    »Ah«, Icherios überlegte verzweifelt. Die anderen Studenten hatten immer wieder flüsternd von einer derartigen Einrichtung berichtet, aber ihm wollte der Name jetzt nicht einfallen. » Fräulein Maleines Haus der edlen Freuden in der Kanalstraße«, stieß er erleichtert aus, als er plötzlich einen Geistesblitz hatte.
    Der Mann drückte ihm einen Kreuzer in die Hand. »Er kann einen Brief für mich zur Stadtverwaltung bringen.« Der Mann, der es nicht für nötig befunden hatte, sich vorzustellen, zog nun einen versiegelten Umschlag aus seinem edlen Wams. »Ich gebe Ihm vier Heller und dasselbe erhält er vom Empfänger, Nikolaus Saldach. Versteht Er, was ich sage?«
    Icherios nickte. Er war enttäuscht, hatte er doch auf eine Gelegenheit gehofft, sich mit einem geschwätzigen Diener zu unterhalten. Der Mann holte die Münzen aus seinem Geldbeutel und drückte sie dem jungen Gelehrten zusammen mit dem Brief in die Hand, wobei er darauf achtete, ihn nicht zu berühren. »Er kann jetzt gehen.«
    Die Aufforderung war unmissverständlich, sodass Icherios unter den wachsamen Augen des Dieners das Haus verließ. Nachdem er in der Menge untergetaucht war, blieb er stehen und begutachtete den Umschlag, ohne etwas Auffälliges daran erkennen zu können. Seufzend ging er weiter – er musste den Brief abgeben, wenn er nicht im Gedächtnis des Mannes haften bleiben wollte. Zumindest wusste er nun, dass er es mit einem überaus wohlhabenden Toten zu tun hatte. Bei der Stadtverwaltung, einem monströsen Fachwerkhaus, wurde er von einem gelangweilten Wächter angehalten. »Wohin des Wegs, Geselle?«
    »Muss einen Brief abgeben«, nuschelte Icherios.
    Der Mann stützte sich auf seine Hellebarde. »Ich darf keine Boten hineinlassen. Gib ihn mir.«
    »Aber mir wurden vier Heller versprochen!«, protestierte Icherios in der Hoffnung, aufrichtig empört zu wirken.
    »Von wem?«
    Das war eine gute Frage. Er holte den Brief hervor und hielt der Wache das Siegel unter die Nase. »Von irgendeinem reichen Stiesel beim Gluwark.«
    »Das sieht echt aus.« Der Mann kratzte sich am Kinn. »Saldach wird erfreut sein.« Er kramte in seiner Hosentasche und brachte eine Handvoll Münzen zum Vorschein.
    Icherios zögerte, dann wagte er es

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