Der Kraehenturm
erläutern? Katharina würde sich freuen, wenn ich in der Lage wäre, ihr davon zu berichten.«
Der Händler zögerte kurz, dann nickte er und führte Icherios in einen Nebenraum, in dem er die Gesichter modellierte und Gipsformen von ihnen anfertigte, um sie sodann mit Porzellanmasse auszugießen, zu brennen und zum Schluss mit viel Sorgfalt zu bemalen. In einem anderen Raum stellte er die weichen Puppenkörper her, nähte kleine Schuhe, Hüte und Kleider. An einer Wand hingen Büschel von Menschenhaaren, die armen Frauen und Männern für einige Münzen abgekauft wurden, um zu Puppenhaaren verarbeitet zu werden. Obwohl er in jede Ecke spähte, fand Icherios bei dem Rundgang nichts Auffälliges. Oft sind die scheinbar Harmlosen die Schlimmsten, ermahnte er sich. Aber als er in Sifridts rundes Gesicht blickte, fiel es ihm schwer, in ihm einen Mörder zu sehen.
»Haben Sie sich entschieden?«
Der junge Gelehrte nickte und zeigte auf eine Puppe in einem marineblauen Kleidchen mit weißen Rüschen. Er wollte den Puppenmacher nicht vor den Kopf stoßen und dadurch unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Händler lächelte glücklich. »Das wären fünf Gulden.«
Icherios zuckte zusammen. Vor wenigen Wochen hätte er von diesem Betrag noch monatelang leben müssen, daher kostete es ihn nun etwas Überwindung, die Münzen in Sifridts Hände zu legen.
Mit der sorgfältig verpackten Puppe in den Armen kletterte er auf Mantikors Rücken. Er konnte den warmen Atem des Tieres vor sich aufsteigen sehen, denn es wurde immer kälter.
Icherios’ nächstes Ziel war Kroyan Nispeths Puppenladen. Die Sonne verschwand inzwischen langsam hinter den Dächern Heidelbergs und hinterließ einen qualmenden, stinkenden Moloch, der seine Schattenhände nach dem jungen Gelehrten auszustrecken schien. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl, als er in die Straße einritt. Was sollte er machen, wenn er dort tatsächlich dem Mörder gegenüberstand? Gespenstische Stille lag über der Gasse, weder Hunde, Ratten, Vögel noch Menschen waren zu sehen.
Icherios ritt, bis er direkt vor dem Hauseingang stand. Die Tür war verschlossen. Ebenso die Läden, durch die kein Licht nach außen drang. Der junge Gelehrte stieg ab und rüttelte an der Tür. War der Puppenmacher vielleicht schon weggezogen? Leise schlich er um das schiefe Steinhaus herum, versuchte in die Fenster hineinzuspähen, aus denen ihm jedoch nur Schwärze entgegenschlug. Eine Bewegung in den Schatten ließ ihn zurückzucken. Das Gefühl, beobachtet zu werden, kehrte zurück. Er stolperte, als er zu seinem Pferd zurückeilte, und schlug mit dem Gesicht hart auf den gefrorenen Schnee. Hastig rappelte er sich auf, wagte aber nicht, sich umzublicken. Endlich erreichte er Mantikor, den er trotz des glatten Untergrunds zum Trab antrieb, noch bevor er sicher im Sattel saß. Erst als er sich dem Stadtzentrum näherte, Kutschen an ihm vorbeifuhren und das Gemurmel vorbeieilender Passanten ihn einholte, zügelte er sein Pferd im Lichtkranz einer Laterne. Die Erschöpfung übermannte ihn beinahe. Seit Nächten hatte er kaum geschlafen, das ständige Gefühl beobachtet zu werden zehrte an seinen Kräften, und die gespenstischen Geschehnisse in Heidelberg erweckten tiefe Beklemmung in ihm. Mutlos legte er den Kopf auf den warmen Pferdehals, lauschte dem Schlagen des kräftigen Herzens. Nicht aufgeben, redete er sich zu. Weitermachen. Jeder einzelne Knochen in seinem Leib schmerzte, als er sich wieder aufrichtete und mit Mantikor zu der alten Eiche ritt, bei der die Leiche Frytz Grenalts gefunden worden war. Die Stadt war hier eine andere. Gewalt und Hass beherrschten hier die Straßen. Zwielichtige Gesellen, Huren und Diebe sammelten sich in den verlassenen Gassen. Selbst die Nachtwächter trauten sich nur in Gruppen in diesen Teil Heidelbergs. Was hatte ein wohlhabender Mann in einer solchen Gegend gesucht?
Die alte Eiche streckte ihre kahlen Zweige dürren, gierigen Fingern gleich über zwei verfallene Steinhäuser. Hier hatte man die Leiche gefunden. Icherios sprang von Mantikors Rücken und suchte die Umgebung ab, wobei er ständig auf ein verräterisches Geräusch oder eine Bewegung in den Schatten achtete. An einer Hausecke hinter einem Haufen Unrat sah er etwas glitzern. Er näherte sich und erkannte dasselbe Symbol, das er zuvor am anderen Leichenfundort entdeckt hatte: eine perfekte Doppelspirale. Aus unzähligen, kleinen Steinchen gelegt, musste jemand Stunden damit verbracht
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