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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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hatte. An Schlaf war nicht zu denken gewesen, und das Bild von Vallentins Augen und der tote Blick der Puppe verfolgte ihn in jeder wachen Minute.
    Bald. Der junge Gelehrte hoffte Marthes so lange vertrösten zu können, bis Carissima wieder abgereist war. Unruhig wippte er mit den Füßen. In was war Vallentin geraten, dass solch ein Monster ihn tötete? Oder war es Zufall gewesen? Icherios massierte seine Schläfen. Er glaubte nicht an Zufälle. Kreaturen wie diese trugen die Handschrift des Ordo ­Occulto. Er rieb über die Narben an seinen Handgelenken, die unter seinem Hemd mit den überlangen Ärmeln vor neugierigen Blicken verborgen lagen. Sein Gefühl sagte ihm, dass das Monster von jemandem gelenkt worden war, der Vallentin töten wollte. Wer erschuf ein derartiges Wesen? Ein Puppenmacher? Sollte es so einfach sein?
    Marthes versuchte während der Vorlesung immer wieder, mehr über Carissima zu erfahren, obwohl Icherios vorgab, sich auf seine Notizen zu konzentrieren. Dann endlich beendete Frissling seinen Vortrag, woraufhin hektisches Ge­raschel in den Bankreihen erklang. Der junge Gelehrte stellte seine Tasche auf den Tisch und packte Tintenfass, Feder und Papiere hinein. »Kannst du mir einen Puppenmacher in Heidelberg empfehlen? Ich möchte einen Freund besuchen, der eine kleine Tochter hat.« Obwohl Kroyan Nispeths Laden verdächtig wirkte, wollte er keine voreiligen Schlüsse ziehen und sich auch bei anderen Puppenmachern umsehen.
    Marthes zuckte mit den Schultern, während er seine Tasche zuknotete. »Nispeths Laden hast du ja bereits gesehen. Ich mag ihn zwar nicht, aber seine Puppen sind sehr beliebt.«
    »Das Gebäude wirkte so verlassen, und ich habe nicht viel Zeit.«
    »Es gibt noch einen in einer Gasse, die einige Straßen von der Heiliggeistkirche entfernt liegt.«
    Icherios schulterte seine Tasche. »Danke.« Bevor Marthes ihn aufhalten konnte, war er schon in der Menge verschwunden und eilte zum Magistratum. Die restlichen Vorlesungen fielen an diesem Tag aus, da die Kälte ihren Tribut bei den Dozenten einforderte und sich die meisten krankgemeldet hatten.
    Vallentin war zwar in Karlsruhe getötet worden, aber er hatte für den Heidelberger Ordo Occulto gearbeitet, und obwohl es unwahrscheinlich war, den Mörder hier zu finden, gab es dem jungen Gelehrten zumindest das Gefühl etwas zu tun, wenn er sich bei den Puppenmachern umschaute. Doch zuerst wartete eine andere Aufgabe auf ihn. Er hielt bei einer heruntergekommenen Schneiderei an und kaufte sich einfache Kleidung, die für einen Tagelöhner angemessen war. Dann eilte er nach Hause, beschmutzte seine neuen Kleider mit Staub, Asche und Essensresten, zog sie an und ­betrachtete sich prüfend im Spiegel. So ganz glaubwürdig war es nicht. Seine Wangen waren zu rosig, und seine Haut war zu weich, besonders an den Händen, aber das ­musste genügen. Mithilfe der Stadtkarte prägte sich Icherios die Adressen von Frytz Grenalt und Bruno Gluwark ein. Es war an der Zeit, mehr über die schattenlosen Toten zu erfahren.
    Er beschloss, zuerst zu Bruno Gluwarks Haus zu gehen, das am Fuße des Heidelberger Schlosses in der Nähe des Kornmarkts lag. Der einst so weiße Schneeteppich hatte sich durch unzählige Nachttöpfe, die auf ihm entleert worden waren, Pferdedung und Hundekot in stinkenden, braunen Matsch verwandelt. In Fetzen gehüllte Bettler hockten auf klapprigen Holzkisten und reckten jedem Passanten flehentlich ihre Hände entgegen. Icherios schlang die Arme enger um sich. Die dünnen Kleider spendeten kaum Wärme. Endlich erreichte er das Haus des Toten, ein prächtiges altes Gebäude mit einer prunkvollen Fassade aus rotem Sandstein, die von unzähligen verspielten Vorsprüngen, Wappen und Mustern geziert wurde. An der Eingangstür hing eine blank polierte, kupferne Glocke. Der junge Gelehrte holte tief Luft, dann klingelte er.
    Ein Mann mittleren Alters mit zu schmalen Augenbrauen und dürren Knien, die unter einem schlammgrünen Gehrock hervorstachen, öffnete die Tür und musterte Icherios. Dieser kannte das Spiel, er hatte lange genug in einer wohlhabenden Händlerfamilie gelebt, um die Gepflogenheiten verinnerlicht zu haben. Er ließ die Schultern hinuntersinken, nahm eine krumme Haltung ein und bemühte sich, einen verlotterten Eindruck zu hinterlassen.
    »Sin’ die Herrschaften zu sprechen?«
    Der Diener runzelte die Stirn, woraufhin Icherios die Luft anhielt. Dies war der entscheidende Moment.
    »Nein, kommen Sie ein anderes

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