Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
Vom Netzwerk:
nachzuhaken. »Warum das?«
    Er hatte Glück, die Wache schien nur zu gerne mit ihren Kenntnissen über die höheren Schichten prahlen zu wollen. »Man munkelt, der olle Gluwark sei durchgedreht. Jedenfalls ist er verreckt«, erklärte er mit gesenkter Stimme.
    »Die Reichen ticken doch alle nicht richtig.«
    »Das war anders. Er weigerte sich, bei Tageslicht vor die Tür zu treten oder jemanden in seine Nähe zu lassen. Alles musste nachts erledigt werden. Das ging so über mehrere Wochen, bis man ihn in der Gosse fand.«
    Das überraschte den jungen Gelehrten. Er erinnerte sich an seine Begegnung mit dem Schattenwesen und die Ängste, die er seither in der Dunkelheit empfand. Warum sollte jemand, der dieser Kreatur begegnet war, die Nacht dem Tag vorziehen? War der Tote etwas, doch kein Opfer des Schattenmonsters?
    »Jedenfalls ist sein einziger Sohn aus Mannheim zurückgekehrt, um sich das Erbe unter den Nagel zu reißen, und Nikolaus Saldach möchte das Haus kaufen.«
    »Scheint nicht so, als würde sein Tod bedauert werden.«
    Der Mann grinste und entblößte eine klaffende Zahnlücke im Oberkiefer. »Man sagt, dem Sohn käme das Erbe sehr gelegen. Ihn zog es schon immer an den kurfürstlichen Hof in Mannheim, und nun kann er sich dort einkaufen.«
    Das überraschte Icherios nicht. Seit Heidelberg den Status einer Residenzstadt verloren hatte, zog es vor allem junge Männer nach Mannheim, um als Beamte im Dienste des Fürsten oder gar Kaisers ihr Glück zu versuchen.
    Die Wache drückte dem jungen Gelehrten vier Heller in die Hand, nahm ihm den Brief ab und schob ihn auf die Straße. »Genug geredet, verschwinde jetzt, oder ich bekomme noch Ärger.«
    Icherios machte sich grübelnd auf den Weg zu Frytz Grenalts Anwesen, das am Stadtrand in der Nähe des Neckars lag. Gedankenverloren stapfte er durch den braunen, stinkenden Schneematsch, vorbei an Bettlern, Straßenhändlern und mageren Straßenkötern. Der Sohn hatte ein Motiv, doch bei der Erinnerung an den verweichlichten Mann zweifelte er an dessen Fähigkeit, einen Mord begehen zu können. Falls es sich überhaupt um Mord handelte. Bisher wusste er lediglich, dass es zwei schattenlose Leichen gab.
    Das Anwesen von Frytz Grenalt bestand aus einem gro­ßen Fachwerkhaus mit frisch gestrichenen Balken und zahlreichen bogenförmigen Fenstern, die im weißen Schnee erstrahlten. Trotz des offensichtlichen Reichtums der Bewohner – ein marmorner Springbrunnen mit einem Engel als Wasserspeier zierte die Auffahrt, die Platz für ein halbes Dutzend Kutschen bot –, schloss sich an das Gebäude ein kleiner Küchengarten und Weiden für Vieh an. Etwas abseits des Hauses, direkt an den Waldrand gebaut, stand ein windschiefer, aber geräumiger Schuppen, aus dessen Innerem Dampf in den klaren Winterhimmel stieg. Icherios beschloss, dieses Mal zuerst nach einem einfachen Angestellten zu suchen, um nicht wieder Gefahr zu laufen, von einem hochnäsigen Diener abgewimmelt zu werden. Im Stall, in dem vier gut gepflegte Kaltblüter und mehrere prächtige Reit- und Kutschpferde an ihrem Heu kauten, wurde er fündig. Ein weißhaariger, gebeugter, alter Mann, der auf einem klapprigen Hocker saß, putzte am Ende der Stallgasse mit viel Sorgfalt einen Sattel aus dunkelrotem Leder.
    »Ich will nicht stören«, wagte Icherios einen vorsichtigen Vorstoß, doch der Greis reagierte nicht. »Herr?« Der junge Gelehrte ging auf den Mann zu und wartete, bevor er es erneut versuchte, bis er direkt vor ihm stand.
    »Wenn du mich nicht behelligen willst, warum belästigst du den alten Kunert dann?«
    Icherios trat verwirrt einen Schritt zurück. »Weil ich Hilfe benötige?«
    Der Alte hustete und spuckte einen schleimigen Klumpen vor seine Füße. Zum ersten Mal sah er den jungen Gelehrten an und wurde blass. »Der Schatten, ich spüre ihn.« Icherios wollte zurückweichen, doch der Mann packte ihn am Arm. »Hüte dich vor der Dunkelheit.« Er starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an, die von einem milchigen Film überzogen waren, und sank dann auf seinen Hocker zurück, um mit seiner Arbeit fortzufahren, als wäre nichts geschehen.
    Das Herz raste in Icherios’ Brust. Er suchte mit den Augen jeden Winkel des Stalls ab, ohne etwas Bedrohliches zu bemerken, bevor er sich erneut dem Alten zuwandte.
    »Was für ein Schatten?« Vergeblich versuchte er, ein Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.
    »Von was redest du?« Der Mann sah ihn verständnislos an.
    Der junge Gelehrte beschloss, es

Weitere Kostenlose Bücher