Der Kraehenturm
Silas musterte sie von oben bis unten. Sie war raffiniert, das musste er ihr lassen. Und vorsichtig. Sie entblößte kaum einen Fingerbreit von ihrer milchfarbigen Haut. Das Biest trug sogar Handschuhe! Am Kamin angelangt, positionierte er sich so, dass seine Finger den Schürhaken berührten. Ein kurzer Stoß würde reichen, um sie auszuschalten. Doch wohin mit der Leiche?
Er beugte sich vor, als ob er ihr ins Ohr flüstern wollte. Sie kam näher. Da nutzte er die Gelegenheit, ergriff das Eisen und presste es gegen ihren Hals. Es zischte, und der Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase. Sie schrie auf und riss sich los.
»Ich weiß, was Ihr seid, Incantatrix.« Das Eisen verriet sie – einzig diese Hexenart reagiert derart auf das Metall – und ihre erschrockenen Augen bestätigten es. Dieses Opalgrün war wirklich faszinierend.
Sie setzte zu einem Zauberspruch an. Zähes Biest. Er versuchte sie an der Kehle zu packen, doch sie wich ihm aus. Ihre Reaktionen waren schnell, zu schnell für eine einfache Incantatrix. Mit einer beiläufigen Handbewegung schleuderte sie ihn zu Boden. Pfeifend entwich die Luft aus seinen Lungen. Das tat weh!
»Wagt es nicht, mich noch einmal zu berühren.«
»Was wollt Ihr denn tun? Mich töten mit all den Dienern als Zeugen? Ihr und Euer Hexenzirkel wärt enttarnt.«
Ein entsetztes Keuchen drang über ihre Lippen.
»Ja, ich weiß von Euch. Aber es interessiert mich nicht.« Silas durfte sich nicht in einen Kampf verwickeln lassen. Ein Patt war besser, als seine Tarnung zu verlieren, wenn er sie in einem Haus voller Zeugen kaltmachte. Zudem war sie eine Verbindung zum Hexenzirkel und brachte ihm mit etwas Glück Zacharas Mörder oder zumindest den hundert Gulden einen Schritt näher. »Wir verlassen das Gebäude ohne Blutvergießen. Zur Sicherheit werde ich nach meiner Rückkehr in die Kirche einen Brief aufsetzen, der bei meinem Tod verlesen wird und Eure wahre Natur aufdeckt.« Er lächelte sie an. »Nur damit Ihr auf keine dummen Gedanken kommt. Durch Euer Wissen über mich habt Ihr Gewissheit, dass ich Euch nicht verraten werde.«
Sie blickte ihn misstrauisch an. Dann nickte sie. »Unter einer Bedingung.«
»Ich höre.«
»Ihr erfüllt Wylhelms Wunsch.«
Was für eine seltsame Hexe. »Einverstanden.« Damit hatte er zumindest die Garantie, sie noch einmal wiederzusehen und mehr über sie zu erfahren.
Gemeinsam gingen sie zu dem Sterbenden zurück und gaben ihr Versprechen ab, seine Beerdigung nach seinen Vorstellungen zu gestalten.
Einige Stunden später tat Wylhelm seinen letzten Atemzug. Man informierte Silas umgehend, sodass die Bestattung unter Ausschluss der Öffentlichkeit zwei Tage darauf stattfinden würde.
25
Unter falschem Namen
G
9. Novembris, Heidelberg
M arthes zupfte unauffällig an Icherios’ Ärmel und brachte diesen so in die traurige Realität einer öden Vorlesung bei Pater Frissling zurück. Vor Müdigkeit fiel es ihm an diesem Morgen schwer, seine Augen offen zu halten, während sich gleichzeitig eine quälende Unruhe in ihm ausbreitete.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte sein Freund.
Was sollte er darauf antworten? Eine grauenerregende, abartige Puppe hatte seinen besten Freund umgebracht in Zeiten, zu denen er geglaubt hatte, dass die Welt allein den Menschen und der Wissenschaft gehörte. Leichen tauchten auf, die keinen Schatten besaßen, und er war sich nicht sicher, wie sehr er bereits vom Strigoi kontrolliert wurde. »Lange Nacht«, wisperte er.
Marthes blickte ihn enttäuscht an, kritzelte etwas auf einen Zettel, den er ihm zuschob. Schon wieder dieses Weib?
Der junge Gelehrte nickte, auch wenn es ihn schmerzte, seinen Freund belügen zu müssen und zu enttäuschen.Aber er durfte ihn nicht in die Welt des Ordo Occulto hineinziehen.
Wenn du sie siehst, wirst du es verstehen.
Wann? Marthes grinste zweideutig.
Wie er wohl auf Carissima reagieren würde? Icherios verwarf den Gedanken sogleich wieder. Die Vampirin betrachtete die meisten Menschen als Nahrungsquelle, als Vieh, das ihren Wünschen zu gehorchen hatte. Schuldbewusst erinnerte er sich an seinen überhasteten Aufbruch von letzter Nacht. Ihre Gegenwart ließ ihn Vallentins Tod immer und immer wieder erleben, bis er es nicht mehr ertragen hatte und geflohen war. Die Verletzungen an Schulter und Oberschenkel waren inzwischen verheilt; eine Tatsache, die Icherios zutiefst erschreckte, sodass er die Nacht rastlos in seinem Zimmer auf und ab laufend verbracht
Weitere Kostenlose Bücher