Der Kraehenturm
haben, sie so hinzulegen. Warum?
Zumindest stand nun für den jungen Gelehrten fest, dass es sich um eine Serie von Morden handelte. Doch dadurch wurden die offenen Fragen nicht weniger. War es etwa dieses Schattenwesen, das die Menschen getötet hatte, oder nur ein besonders bestialischer Mensch, der mordend durch die Straßen Heidelbergs zog? Oder aber steckte viel mehr dahinter?
In seine Überlegungen vertieft ritt er zurück ins Magistratum und vergaß dabei, dass er eigentlich noch Carissima besuchen wollte. Während er Mantikor absattelte und striegelte, beschloss er, in der Bibliothek des Magistratum nach Antworten zu suchen. Selbst wenn er damit ungewünschte Aufmerksamkeit auf sich zog, musste er mehr über das Schattenwesen erfahren.
Nachdem er Maleficium aus seinem Käfig geholt und in der Küche hastig ein gezuckertes Hefeteilchen verschlungen hatte, kletterte er über die schwankende Leiter in die Bibliothek hinunter. Ehrfurchtsvoll strich er über die dicken Lederbände mit den goldenen Schriftzügen auf ihrem Rücken und zog mehrere der alten Wälzer heraus, die sich mit übernatürlichen Wesen und Symbolen beschäftigten. Dann setzte er sich mit ihnen an einen Tisch. Das meiste, was er dort las, war natürlich purer Unsinn. Vampire konnten nicht fliegen, und es gab keine Einhörner, aber wenn man zwischen den Zeilen las, fanden sich interessante Informationen. Nur leider keine, die ihm weiterhalfen. Ähnlich erging es ihm in Bezug auf die Doppelspirale. Zeichen für Tag und Nacht, Tod und Leben, Fruchtbarkeitssymbol – doch was half ihm dieses Wissen?
Irgendwann übermannte den jungen Gelehrten die Müdigkeit, und er schlief mit der Ratte auf seiner Schulter über den Büchern ein.
26
Die Beerdigung
G
10. Novembris, Heidelberg
D er Friedhof, auf dem Wylhelms Begräbnis stattfinden sollte, lag im Schatten des Heidelberger Schlosses, etwas abseits der Stadt im Wald. Zahlreiche Bäume standen zwischen alten Familiengruften, verwitterten Engelstatuen und Grabsteinen. Zwischen den kahlen Ästen kauerten die Überreste von Vogelnestern, während die hohen Tannen einen Teppich aus spitzen Zapfen über den Boden gelegt hatten.
Neben Silas stand der Totengräber, ein untersetzter Mann mit tief in die Augen gezogener Mütze und hohen Stiefeln. Der Sarg, ein protziges Ungetüm aus Gold und Ebenholz, lag bereits im geöffneten Grab, einzig Gismara fehlte noch, um die Bestattung durchführen zu können. Der Hexenjäger trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er schielte zu einer schlanken Fichte auf der gegenüberliegenden Seite des Friedhofs hinüber, unter der Zacharas’ letzte Ruhestätte lag. Seit der Beerdigung hatte er nicht gewagt, sie zu besuchen. Es war einfach zu gefährlich, dort gesehen zu werden, und könnte zu viel Aufmerksamkeit erregen. Schlimm genug, dass diese Hexe behaupten konnte, er habe gegen das Zölibat verstoßen. Es war eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet er zum Hexenjäger wurde, der nicht in der Lage war, auch nur einem Rock zu widerstehen. Er beabsichtigte, Gismara nach der Bestattung heimlich zu folgen. Die letzten Tage hatte er sich immer wieder unauffällig nach seinem Bruder erkundigt, und je mehr er erfuhr, desto stärker wurde die Gewissheit, dass nur diese angebliche Hexe, mit der er befreundet gewesen war, ihn getötet haben konnte. Was ihn aber verwirrte, war, warum Zacharas sich überhaupt mit einem derartigen Weib abgegeben hatte. War es der missglückte Versuch, eine weitere Seele retten zu wollen? Oder war er von ihr und ihrem Zirkel bedroht worden? Der Hexenjäger ballte die Fäuste. So oder so, er würde den Mörder büßen lassen.
Der Totengräber stapfte ungeduldig um das Grab herum. Wo blieb nur dieses verdammte Weib? Ein Windstoß trug den Duft von Gismaras Parfum zu ihm herüber, noch bevor er ihre Schritte hörte. Er drehte sich um und sah sie den Hügel heraufkommen. Ihr schwarzes Kleid ließ ihre Figur noch magerer erscheinen, ihr blasses Gesicht zeigte Trauer. Sie war ihm ein Rätsel. Nicht so wie die meisten geborenen Hexen schien sie den Menschen gegenüber freundlich gesonnen zu sein. Trotz seiner zwiespältigen Gefühle regte sich seine Männlichkeit bei ihrem Anblick, sodass er dankbar war, dass sein Gewand, seine Dalmatik, so weit war. Die Erinnerung an ihre leidenschaftliche, gemeinsame Nacht war zu lebendig. Ihre Körper hatten sich wunderbar ergänzt, und er konnte noch immer ihre seidigen Haare zwischen seinen Fingern
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