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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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gewesen. Das Blut von Feinden schmeckte noch immer am süßesten. Bei dem Gedanken daran lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie brauchte dringend ein mehr oder weniger williges Opfer.
    Der Diener bedeutete ihr, vor der zweiflügeligen Tür zu warten, während er in den Ballsaal schlüpfte. Carissima vergewisserte sich noch einmal, dass ihr Kleid saß und jede ihrer prachtvollen, schwarzen Locken am richtigen Platz ihr Gesicht umspielte. Sie biss sich kräftig auf die Lippen und kniff sich in die Wangen, um ihnen eine leichte Röte zu verleihen.
    Endlich öffnete sich die Tür, und sie wurde mit volltönender Stimme angekündigt. Voller Genugtuung sah sie, wie sich alle Augen auf sie richteten. Sie knickste anmutig und begrüßte den Grafen von Ziesling, einen ältlichen Mann mit rundem Bauch und überdimensionaler Perücke, die sein schwindendes Haar kaschieren sollte. Verführerisch zwinkerte sie ihm zu. Der Fürst hielt ihre Hand einen Moment zu lange, nachdem er darüber einen Kuss in die Luft gehaucht hatte. Seine Gemahlin, eine Frau mittleren Alters mit auffälligen Haarteilen und einer spitzen Nase, musterte­ sie argwöhnisch. Carissima lächelte ihr verschlagen zu. Sie genoss diesen Abend schon jetzt. Zu schade, dass es zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, den Gastgeber zu töten.
    Nach einem letzten verführerischen Blick, der dem Fürsten die Röte ins Gesicht trieb, ging sie zum Büfett hinüber. Beim Anblick der üppigen Speisen verzog sie angewidert den Mund. In Dornfelde, ihrer Heimat, regierten Vampire und Werwölfe über die Menschen, die in deren Obhut keinen Hunger leiden mussten. Derartige Verschwendung in einem Land zu sehen, in dem täglich Männer, Frauen und Kinder verhungerten, erzürnte sie. Da wagten es diese Wesen, ausgerechnet sie als Monster zu bezeichnen! Sie stand wenigstens zu dem, was sie war: ein Raubtier, ständig auf der Jagd. Carissima zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie war schließlich hier, um sich zu amüsieren.
    »Möchten Sie ein Glas Wein?«
    Sie drehte sich zu dem Besitzer der samtigen, volltönenden Stimme um. Bei seinem Anblick stockte ihr der Atem. Seidiges, langes Haar von tiefstem Schwarz umrahmte ein ­schmales, aristokratisches Gesicht, dessen Perfektion einzig durch den zu weichen Schwung seiner Lippen abgeschwächt wurde. In den rauchgrauen Augen, die bis in ihr Innerstes zu blicken schienen, lag eine Härte, die sie erregte. Er war groß, schlank und kräftig. Eine echte Herausforderung und somit das perfekte Opfer für diese Nacht. Sie lächelte gewinnend.
    »Einen Roten bitte.«
    »Tinuvet Avrax, zu Ihren Diensten.« Der Mann verbeugte sich gekonnt.
    Kein Adelstitel. Entweder war er zu bescheiden, oder er hatte jemanden bestochen, um hier zu sein.
    »Carissima, Fürstin von Sohon.«
    Avrax ergriff ihre Hand, drehte sie um und hauchte ihr einen Kuss in die Handfläche, der sie erschaudern ließ. Mit gespielter Verlegenheit zog sie sie zurück. Das Spiel hatte begonnen.
    Der Mann ging zu den Karaffen hinüber und goss ihr einen rubinroten Wein ein. Lächelnd nahm Carissima den Kristallkelch entgegen und nippte daran. Auch wenn Vampire den Geschmack von Blut bevorzugten, waren sie ab und an einem guten Tropfen nicht abgeneigt.
    Avrax trat dicht an sie heran und nahm ihr den Kelch aus der Hand. Sie roch sein herbes Duftwasser und spürte die Wärme seines Körpers. Ein Kribbeln durchfuhr sie, als er ihre Hand ergriff. Was war nur mit ihr los?
    »Gnädigste, gewährt Ihr mir die Freude eines Tanzes?«
    Die Vampirin knickste anmutig. Sie stellte sich vor, wie sein Blut in ihren Mund quoll, und die Vorfreude ließ sie erzittern. Eigentlich eine Schande, aber sie verdiente eine Köstlichkeit an diesem Abend.
    Nachdem ein neuer Tanz angekündigt worden war, gesellten sie sich zu den anderen Paaren. Carissimas Augen leuchteten vor Freude. Sie liebte es zu tanzen, vor allem das Menuett, da es ein hohes Maß an körperlicher Kraft und Beherrschung verlangte, über die sie als Vampir im Überfluss verfügte. Sie spürte die bewundernden Blicke der Herren auf sich, als sie sich anmutig verbeugte und sich im Takt der Musik um ihren Partner drehte. Wann immer sich ihre Hände berührten, lächelte sie verschämt. Sie hatte schon früh gelernt, dass Männer es liebten, ihre Beute zu jagen, und das Gefühl der Überlegenheit schätzten. An dem Begehren, das sich in Avrax’ Gesicht abmalte, war zu erkennen, dass ihre Strategie bei ihm von Erfolg gekennzeichnet

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