Der Kranich (German Edition)
beiden Wochen nicht gerade ruhig verlaufen – mehr hatte sie einfach nicht geschafft.
Schmerzhaft wurde ihr bewusst, dass er ihr alles andere als gleichgültig war, doch sie zwang sich innerlich zur Distanz. Er war erwachsen. Sie war nicht für ihn verantwortlich, und sie konnte ihm nur helfen, wenn sie sich emotional nicht mit ihm verstrickte. Oder war sie etwa im Begriff, denselben Fehler zu machen wie er?
Erschrocken öffnete Karin Kutscher die Augen. Es war fünf nach sechs.
Sie stand auf, setzte sich an den Schreibtisch und griff zum Telefon. Diesmal war sie fest entschlossen zu handeln. Wenn er wieder nicht auftauchte, würde sie hinfahren, das war klar. Während sein Anrufbeantworter ansprang und sie noch fieberhaft überlegte, was sie sagen sollte, klopfte es jedoch plötzlich, und Gustav Elvert streckte den Kopf zur Tür herein.
Sie legte den Hörer wieder auf.
„Tut mir leid, Karin, ich habe gearbeitet und völlig die Zeit vergessen.“
Während er ihr gegenüber Platz nahm, musterte sie ihn erstaunt. Sie hatte erwartet, einen schwer depressiven Menschen anzutreffen, jemanden, der mit dem Leben abgeschlossen hatte – doch das Gegenteil schien der Fall zu sein. Gustav Elvert sah an diesem Abend nicht nur hervorragend aus, er wirkte ausgeglichen, motiviert, beinahe heiter. Verwirrt fragte sie sich, was diesen unerwarteten Wandel ausgelöst haben mochte.
„Ich freue mich wirklich, dich zu sehen, Gustav. Wie geht es dir?“
Da er nicht sofort antwortete, fuhr sie fort: „Du arbeitest wieder? Hast du deinen Entschluss überdacht?“
Er sprach den folgenden Satz langsam, nachdenklich, bedeutungsvoll: „Die Dinge sind nicht immer so, wie sie uns im ersten Moment erscheinen, Karin.“
Natürlich hätte sie sofort einhaken sollen, hätte nachfragen sollen, was genau er damit meinte, doch sie war unkonzentriert. Und das lag nicht primär an ihrer Müdigkeit oder ihrem knurrenden Magen. Es war etwas an seiner Ausstrahlung oder in seinen Augen, das ihr die professionelle Aufmerksamkeit nahm. Etwas, das sie in dieser Form noch nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte und das sie nicht in Worte zu fassen vermochte. Etwas, das sie fast magisch in seinen Bann zog. Nur mühsam gelang es ihr, ihre Gedanken wieder auf Inhaltliches zu richten.
„Um an unser letztes Gespräch anzuknüpfen“, begann sie. „Wir arbeiten in einem Bereich, in dem wir uns zwangsläufig emotional auf unsere Gesprächspartner einlassen müssen. Mancher tut das mehr, ein anderer weniger. Aber die Grenzlinie ist unscharf. Sie ist fließend und in hohem Maße individuell definierbar. So sehr sich der Patient – oder Klient – auf uns einlässt, so sehr lassen wir uns auch auf ihn ein. Wir werden angreifbar, verletzbar. Manchmal mehr als uns lieb ist. Aber lass es mich bitte noch mal ausdrücklich wiederholen: Du hast niemals, in keinem Moment irgendeine Grenze verletzt, sondern dich im Gegenteil in hohem Maße verantwortungsbewusst verhalten. Du hast dir nichts vorzuwerfen, Gustav.“
Er nickte.
„Möchtest du mir von den vergangenen beiden Wochen erzählen?“
„Ich brauchte einfach Zeit.“
„Natürlich. Und die brauchst du noch immer. Du machst eine Krise durch, die du nicht unterschätzen solltest. Beruflich und auch … persönlich. Ich freue mich bestimmt mehr als jeder andere darüber, dass du weitermachen willst, aber ganz ehrlich – denkst du, dass du schon so weit bist?“
„Es geht hier nicht nur um mich. Einer meiner Klienten braucht dringend Hilfe. Ich meine wirklich dringend.“
„Und du glaubst, dass du sie ihm geben kannst?“
„Ich glaube, dass ich sie ihm nicht verweigern kann. Ich bin der Einzige, dem er momentan vertraut.“
„Dein emdr-Klient?“
„Das stimmt. Er hat eine Re-Traumatisierung erlebt, die er allein unmöglich verkraften kann. Ich habe eine Verantwortung ihm gegenüber.“
Karin Kutscher schüttelte ratlos den Kopf. „Normalerweise würde ich jetzt sagen, du läufst vor dir selbst davon. Jedem anderen in deiner Situation würde ich abraten, weil ich es noch für zu früh halte. Aber in deinem Fall …“
Gustav Elvert schwieg.
„Lass uns darüber reden, worum es eigentlich geht.“
„Lukas ist … er ist seinen Weg gegangen. Den Weg, den er für den richtigen hielt. Die Dinge sind vielschichtiger, als wir gemeinhin annehmen. Wir sollten uns davor hüten, vorschnell zu urteilen.“
„Hat man ihn … inzwischen gefunden?“
„Nein.“
„Was fühlst du, wenn du an ihn denkst,
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