Der Kranich (German Edition)
Berufsethos eigentlich unvereinbar sei, überhaupt Honorarforderungen zu stellen. Da war durchaus etwas dran, doch, verdammt noch mal, von irgendwas musste schließlich auch er leben!
Während Lukas weitersprach, rief Elvert sich innerlich zur Ordnung – er war unkonzentriert gewesen.
„Dreimal dürfen Sie raten. Das Problem ist nur, dass ich gegen meinen Vater ja nicht antreten konnte.“
„Eine Tatsache, die Ihnen Ihr
Alter Ego
zweifellos voraus hat.“ Elvert war insgeheim selbst ein Fan der tiefgründigen Saga, die gekonnt mit archetypischen und mythologischen Elementen spielt, und er war fest entschlossen, Lukas’ Phantasie in die Therapie einzubeziehen. „Was geschah mit ihm? Wurde er auch auf die dunkle Seite gezogen? Wurde er zu
Darth Vader
?“
Für einen Moment glitt Lukas’ erstaunter Blick über das Gesicht des Therapeuten. „Nein. Anakin Skywalker wusste nichts von seinem Sohn und kämpfte um das Leben der Frau, die er liebte. Nur deshalb ließ er sich von der dunklen Macht verführen und wurde zu Darth Vader. Mein Vater war das genaue Gegenteil davon. Ein Feigling, der sich für nichts anderes interessierte als für sich selbst.“
„Und Ihre Mutter? Verlor sie ihren Lebenswillen wie Padmé Amidala?“
Wortlos starrte Lukas aus dem Fenster.
„Was für ein Gefühl löst diese Tatsache in Ihnen aus?“
„Sagen Sie’s mir.“
„Ich denke, dass Sie ganz schön wütend sind.“
Lukas’ Blick wandte sich dem Therapeuten zu. Ein zweifelnder Ausdruck lag darin.
„Und ich denke, Sie haben früh gelernt, diese Emotion gegen sich selbst zu richten.“
Thomas Lamprecht stieg am Schillerplatz aus und schlenderte die Möhringer Landstraße entlang. Er hatte es nicht eilig, denn es war erst kurz nach halb vier. Das bisschen Schnee vom Vormittag hatte die Straßen und Gehwege in matschiggraue Alpträume verwandelt, die Menschen hasteten mit finsteren Minen an ihm vorbei, nach Hause oder wohin auch immer – Januar, ein entsetzlicher Monat! Missmutig besah sich Thomas Lamprecht einige Schaufenster, verschmiert und beschlagen, teure Schuhe und ein Haufen Zeug, das sowieso niemand braucht. Fast wäre er mit zwei Jungs zusammengestoßen, die aufgeregt diskutierend mit einem Pappkarton bepackt aus einer Ladentür stürmten. Die Dreikäsehochs waren kaum in der Pubertät, und über dem Eingang stand in großen weißroten Buchstaben: GameStop. Thomas Lamprecht schüttelte verständnislos den Kopf und dachte an Nina. Bald würde sie auch in das Alter kommen, in dem sie sich für derartige Dinge interessierte. Computerspiele! Konnte so etwas gut für Kinder sein? Stirnrunzelnd setzte er seinen Weg fort.
Noch immer war da dieser Druck in seinem Kopf, gleich nach der leidigen Therapiesitzung würde er sich darum kümmern. Es gab so viel, worum er sich kümmern musste, und er war wütend darüber, dass dieser Elvert oder wie er hieß, ihm seine kostbare Zeit stahl. Wütend und, auch wenn er sich das niemals eingestehen würde, ein wenig ängstlich. Barranquilla und seine Schläger, die machten ihm keine Angst, mit denen würde er schon fertig werden, doch dieser Psycho … Was sollte er dem erzählen?
Fröstelnd vergrub Thomas Lamprecht die Hände tief in den Manteltaschen, passierte eine weitere Querstraße und stand plötzlich vor einem kleinen, senfgrün angestrichenen Einfamilienhaus. Neben der Klingel im Erdgeschoss las er: Psychologische Praxis. Er hatte die Hand schon auf den Knopf gelegt, da fielen ihm David Reichs letzte Worte wieder ein, also drückte er, ohne zu klingeln, gegen die Haustür, die sich sofort öffnete, stieg ein paar Stufen hinauf und betrat die Praxis.
Der Flur, in dem sich eine ausladende Garderobe befand, lag im Halbdunkel. Er schaltete die Deckenbeleuchtung nicht ein, da aus dem offenstehenden Wartezimmer genug Licht drang. Rechter Hand befanden sich zwei weitere Türen. Die eine führte offensichtlich zur Toilette, durch die andere konnte er die Umrisse einer improvisierten Mini-Küche ausmachen. Auf der linken Seite am Ende des Flurs schien sich der Behandlungsraum zu befinden. Etwas Licht und gedämpfte Stimmen drangen aus einem Spalt der nur angelehnten Tür. Ohne dies zunächst bewusst zur Kenntnis zu nehmen, zog Thomas Lamprecht den Mantel aus, hängte ihn an der Garderobe auf und wandte sich dem Wartezimmer zu, als eine der Stimmen plötzlich lauter wurde. Er hielt inne und näherte sich leise dem Türspalt. Der war zwar zu schmal, um hineinzusehen, doch jetzt
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