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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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sich überschneiden.“
    Wieder entstand eine Pause, dann fuhr die helle Stimme fort: „Die Frage ist nun: Zäumt man das Pferd vom Schwanz oder vom Kopf her auf? Ich meine, der Grund, warum die heutige Informationstechnologie in einer Sackgasse steckt, besteht doch darin, dass all die Mathematiker und Informatiker und Elektroingenieure, bei all ihrem erstaunlichen Fachwissen, einen elementaren Baustein aus den Augen verloren haben, der aber unverzichtbar ist, um Programme
qualitativ
zu verändern.“
    „Und der wäre?“
    „Kunst. Eine Synthese dieser
Qualität
erfordert Demut. Aus genau demselben Grund steigt Reinhold Messner regelmäßig gesund wieder von seinen Achttausendern herunter, während viele andere oben bleiben.“
    „Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob ich Sie richtig verstehe – sprechen Sie von künstlicher Intelligenz?“
    In diesem Augenblick hörte Thomas Lamprecht, wie drinnen ein Sessel gerückt wurde, gleich darauf erschien ein Schatten hinter dem Türspalt. Blitzschnell und lautlos glitt er ins Wartezimmer zurück. Vom Rest des Gespräches, das noch etwa fünf Minuten dauerte, konnte er nichts mehr verstehen, doch das spielte keine Rolle. Er hatte genug gehört.
    Plötzlich erschien alles in einem völlig neuen Licht.
    Erleichtert trat Thomas Lamprecht eine Stunde später wieder in den Matsch hinaus. Er fühlte sich etwa so, als ob man vom Zahnarzt kommt, der nicht gebohrt hat. Fürs erste Mal war er nicht schlecht mit dem Psycho fertiggeworden. Er hatte ihm irgendwelche völlig bedeutungslose Brocken aus seiner Kindheit hingeworfen und ihm versichert, dass er fest entschlossen sei, ein neues Leben zu beginnen, in dem für Drogen und ähnlichen Kinderquatsch kein Platz mehr sei. Verantwortung übernehmen, das war das Zauberwort. Erstaunlicherweise schien der andere damit zufrieden zu sein. Allzu viel hatte der wohl nicht auf dem Kasten, doch das war Thomas Lamprecht nur recht. Er würde ihn sich von der Pelle halten, seine Stunden absitzen, und – jetzt wurde die Sache interessant – er würde in den nächsten Wochen ganz sicher seine Beziehung zu diesem verdammt gutaussehenden jungen Kerl intensivieren, den er vom Wartezimmer aus kurz, aber deutlich gesehen hatte.
    Er war sich ziemlich sicher, dass der Hübsche ihn seinerseits nicht gesehen hatte. Und das war gut so.
    Bestens gelaunt stieg Thomas Lamprecht in die Bahn und fuhr in die Innenstadt zurück. Am Österreichischen Platz wechselte er in die U14 und war nach wenigen Minuten am Ziel. Er schlenderte vom Rothebühlplatz zur Calwer Passage, ließ den Blick suchend die Obere Königstraße entlangschweifen, hatte nach kurzer Zeit gefunden, was er suchte und machte einen Abstecher in die Toilettenanlage am Schlossplatz.
    Als er sie wieder verließ, war der unangenehme Druck in seinem Kopf verschwunden, und er konnte es kaum erwarten, eine Wiedersehensparty mit Barranquilla zu feiern. Mühsam hielt er sich zurück – alles zu seiner Zeit.
    Er ging weiter, nun mit energischem Schritt, besorgte im Kaufhof ein Paket Rasierklingen, nahm am Hauptbahnhof wieder die Bahn und fuhr nach Hause.
    Wie gewöhnlich war die Euphorie von kurzer Dauer. Er hatte kaum die Wohnung betreten, da blickte er bereits in Judiths vorwurfsvolles Gesicht.
    „Du hast geraucht!“
    „Wo ist die Kleine?“
    „Bei einer Freundin. Kindergeburtstag. Ich hol sie in einer halben Stunde ab. Du hast
gebased
, Thomas.“
    „Hast du schon gesagt.“
    „Zeig mir die Steine.“
    Als er nicht reagierte, begann sie hysterisch in seinen Taschen zu wühlen.
    „Zeig mir die Steine, na los, wo hast du sie? Du bist gerade mal den dritten Tag draußen, verdammt noch mal, willst du wieder alles kaputtmachen? Du hast gesagt, du bringst das in Ordnung, du hast mir versprochen …“
    Sanft, aber energisch hielt er ihre Handgelenke fest. „Genau das werde ich auch tun. Ich bin ja schon dabei. Aber dazu muss ich denken, verstehst du? Und dazu brauche ich einen klaren Kopf. Also nerv mich nicht, hol mir lieber ein Bier.“
    Da das Kind nicht da war, gönnte er sich den Luxus, es sich auf dem Wohnzimmersofa bequem zu machen. Judiths fortgesetzte Vorwurftirade ignorierend zog er eine kleine, gläserne Pfeife aus der Tasche.
    In der Mensa der Uni Tübingen stellte Eva ihr leeres Milchkaffeeglas auf den Tisch zurück und wischte sich mit der Serviette über die Lippen. Es war bereits nach fünf, und der Raum hatte sich während der vergangenen dreißig Minuten beträchtlich

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