Der Kranich (German Edition)
geleert. Auch Anke, die ihr gegenübersaß, trank den letzten Schluck und schüttelte die blonde Lockenmähne zurück. Dann hielt sie lachend das Glas hoch.
„Der war für Köberle, er lebe hoch!
Santé
.“
„
Santé
“, entgegnete Eva, erschöpft lächelnd.
„Also, du kannst mir sagen, was du willst, aber du hast ein verdammtes Idiotenglück gehabt, heute Früh. Dass er dir die halbe Stunde für die Arbeit drangehängt hat, grenzt ja schon fast an unlauteren Wettbewerb!“
„Hey, gönnst du es mir etwa nicht? Das ist schließlich nur billig, um euren Heimvorteil auszugleichen!“
„Und wer gleicht mir die Punkte aus, die ich durch mangelnde Abschreibemöglichkeiten verloren habe, hm? Das kann mich die Prüfung kosten. Ich hatte mich auf dich verlassen!“
„Und ich mich auf mein Auto – so kann’s eben gehen. Vielleicht büffelst du beim nächsten Mal sicherheitshalber selbst.“
Es war allgemein bekannt, dass Anke die Nachtstunden eher selten dazu nutzte, über juristischer Fachliteratur zu brüten. Schon mehr als einmal hatte Eva der Freundin aus misslichen Lagen in Seminaren geholfen, doch allmählich wurde ihr die Rolle der Disziplinierten lästig.
„Wie sieht’s aus, geh’n wir noch zu mir?“, fragte Anke gut gelaunt. „Ich könnte eine kleine Nachhilfestunde gebrauchen.“
„Heute nicht, ich muss noch nach Stuttgart runter.“ Sorgfältig verstaute Eva ihren Computer in der Tasche und griff nach ihrer Jacke.
Anke grinste verschwörerisch. „Zu deinem neuen Lover, ja klar, wie konnte ich das vergessen! Auch wenn ich mir, ganz ehrlich gesagt, immer noch nicht so richtig vorstellen kann, dass du da einen guten Tausch gemacht hast.“ Schwärmerisch richtete sie den Blick zur Decke. „Kalle war so … wie soll ich sagen … er war schon was Besonderes.“
„Wenn du Lust hast, deinen nächsten Urlaub in Stockholm zu verbringen, geb’ ich dir gern seine Nummer“, entgegnete Eva trocken.
„Wäre eine Überlegung wert, ich fürchte nur, ich bin nicht ganz sein Typ.“
Eva musste lachen. „Denkst du, so was gibt’s? Ein männliches Wesen, dessen Typ du nicht bist?“
Anke spielte Bescheidenheit. „Wer weiß? Jedenfalls hatte er nur Augen für dich. Aber im Ernst – seit Monaten sieht man überhaupt nichts mehr von dir. Das ist schade! Ich würde zu gerne mal ein Wörtchen mit dem ominösen Mr. Skywalker reden …“
„No way. Das ist mir zu riskant. Bleib du nur schön in deinem eigenen Revier.“
„Man wird sehen. Aber wenn’s was Ernstes ist, wirst du ihn mir nicht ewig vorenthalten können.“
„Ja“, sagte Eva nachdenklich, „ich glaub schon, dass es was Ernstes ist“, und stand auf.
„Fahr vorsichtig, sie haben Blitz-Eis angekündigt.“
Eva fuhr nicht schnell. Wie unzählige Male zuvor ließ sie den Käfer die B27 entlangrollen, hing ihren Gedanken nach, eigentlich fuhr das Auto die Strecke längst allein. Im ersten Studienjahr war sie oft mit Mikael von Tübingen zurückgefahren, auf dem Rücksitz seiner Harley. Mikael, den nur seine engsten Freunde Kalle nennen durften. Eva wusste, was Anke gemeint hatte. Ihr selbst war es genauso gegangen, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Er war so ganz anders als die braven Gymnasiasten aus dem deutschen Mittelstand, die sie vorher gekannt hatte. Nicht nur optisch. Sie hatte schnell herausgefunden, dass er den harten Typen nicht nur spielte – doch es hatte ihr gefallen. Eine Zeit lang. Aber irgendwann war der Reiz des Verbotenen vorbei, und Feigheit schien der einzige Grund, der sie weiter bei ihm bleiben ließ. Oder war da noch etwas anderes? Gab es einen verdrängten Teil in ihr, der für die Scheidung ihrer Eltern bestraft werden wollte? Sie war zu Hause nie geschlagen worden, wie sonst wäre es zu erklären, dass sie sich auf seine harten Spiele einließ? Auch dieser Reiz war schnell vorbei, und sie hatte begonnen, sich nach Zärtlichkeit zu sehnen. Das war etwa zu der Zeit, als sie Lukas kennenlernte. Und nun war, ohne dass sie es gewollt hätte, aus der Laune einer Sommernacht etwas völlig Neues entstanden. Ein Gefühl, das sie noch nicht einzuordnen vermochte …
Es war nicht allzu viel Verkehr, es war trocken, die Schnellstraße war längst schnee- und eisfrei, daher schenkte sie dem Asphalt, der in einem langen, schnurgeraden Band vor ihr lag, kaum Aufmerksamkeit. Ein Fehler, wie sich wenige Minuten später herausstellte.
Sie befand sich ungefähr auf der Höhe von Aichtal, also auf halber Strecke der
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