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Der kranke Gesunde

Der kranke Gesunde

Titel: Der kranke Gesunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas von Pein , Hans Lieb
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Schmerzes« einmal auf Zeit dem Harmoniezwang zu entkommen. Denn dann waren die Schmerzen schuld, dass man »aus der Rolle fiel« und zornig redete. »Laute Beschwerden« können aber auch »Leben« in die sich in der (Pseudo-)Harmonie ausbreitende Langeweile bringen. Ein sonst angepasster, stiller und sich »gefühllos« zeigender Mann reagiert vielleicht sehr gefühlsbetont auf die Angst oder den Schmerz seiner Frau – sei es mit Fürsorge oder mit Zorn. Die emotionale Lebendigkeit der Familie wird dann an das Thema »Krankheit« gebunden und steht den Mitgliedern bei anderen Themen nicht zur Verfügung – nicht im Streit und nicht in der Liebe zueinander.
»Die Fürsorge-Pflicht: Jeder ist für jeden da«
    Wird diese Regel unbewusst zum Gesetz, sind alle Mitglieder ausgesprochen hellhörig und umsichtig für das Leid der anderen. Dies beschränkt sich nicht nur auf den »Kranken«. Alle haben ein feines Gefühl dafür, wenn es jemandem schlecht geht; man hegt und pflegt die anderen, ohne zu fragen, ob sie das überhaupt wollen. Und die dürfen so viel »Liebe« auf keinen Fall ablehnen.
    Symptome können hier viele Dienste erweisen: Zum einen liefern sie Fürsorgegründe; Kranke können immer Fürsorge gebrauchen. Die Kehrseite der Fürsorglichkeitsregeln ist, dass alle eine hohe Bereitschaft für Schuldgefühlehaben. Der »Kranke«, weil er glaubt, anderen zur Last zu fallen. Am Ende fühlt er sich sogar doppelt schuldig. Einmal dafür, dass er seine Beschwerden überhaupt hat und einmal dafür, dass andere dadurch Probleme haben. Er erlebt sich als Versager, weil es ihm nicht »gelingt«, gesund zu sein.
    Aber auch die »Helfer« fühlen sich schuldig. Auf die Dauer bekommen sie naturgemäß nämlich auch andere, verbotene Gefühle gegenüber dem »Kranken«: Neid, weil er immer im Mittelpunkt steht; Wut, weil er sich nicht helfen lässt; Verachtung und Enttäuschung, weil er in seinem Kranksein nicht mehr der »Kräftige« von früher ist. Gegenüber einem Kranken darf man in einer »Fürsorge-Familie« solche Gefühle aber nicht zeigen, ohne die Regeln zu brechen.
»Lassen wir's beim Alten«: Veränderungen sind bedrohlich
    Familien oder Paare tun sich schwer, Veränderungen zuzulassen, wenn solche früher einmal schlimme Folgen im System hatten. Oder wenn es zu vielen belastenden Veränderungen ausgesetzt war und keine Kraft mehr für weitere hat, zum Beispiel für Konflikte rund um die Pubertät eines Kindes.
    Ein charakteristisches Gefühl in solchen veränderungsscheuen Systemen ist Angst. Wenn die Eltern in ihrer eigenen Familie (oder deren Großeltern) die Erfahrung gemacht haben, dass wirklich etwas Schlimmes passiert ist, prophezeit ihnen diese Angst: »Das wird nicht gut enden!« Vielleicht hat sich einmal jemand das Leben genommen, ist an einer Krankheit plötzlich verstorben oder die Entscheidung für eine größere Veränderung (z. B. für eine Trennung) hatte schlimme Folgen. So kann die pubertierende Tochter, die sich von der Familie weg bewegen will oder im Namen ihrer eigenen Entwicklung sogar muss, insgeheim befürchten, ihre Mutter würde schwer krank werden (und am Ende daran sterben), wenn sie solchen eigenen Bedürfnissen nachgeht. Der Ehemann mag glauben, seine Frau geriete in tiefstes Unglück, würde er sein Interesse an einem Umzug der Familie in eine andere Stadt nachhaltig vertreten. Von bisherigen Gepflogenheiten abweichende Wünsche oder Gefühle dürfen in einem solchen veränderungswidrigen Klima gar nicht zugelassen, geschweige denn offen ausgesprochen und danach gehandelt werden.
    Hier kann das Symptom eines »kranken Systemmitglieds« Ausdruck einer emotionalen Erstarrung sein. Und es kann ganz natürlich anstehende Veränderungen stoppen. Vielleicht bekommt Mutter immer genau dann ihre Kopfschmerzen, wenn das Thema der sich ganz natürlich entwickelnden und manchmal heftigen Rivalität zwischen Vater und Sohn »in der Luft liegt«. Unbewusst trägt der »Kranke« mit seinem Symptom so dazu bei, dass alles beim Alten bleibt. Auch wenn das dann schlimm ist: Man weiß ja nie, ob es nachher nicht noch schlimmer wird. Man erkennt dann in solchen Zeiten nicht, dass es umgekehrt ist. Erst wenn die anstehenden Veränderungen zugelassen werden, darf das Symptom gehen und es wird mit der Zeit und etwas Geduld miteinander besser.
Regeln zu Nähe und Distanz
    Bei diesen Regelungen geht es um das Verhältnis von »Wir« und »Ich«. Das Zusammenleben in der sozialen Welt gestaltet sich

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